: Die Bilder kamen mit über die Brücke
Bosnischen Kindern und Jugendlichen hat eine Bürgerinitiative in Hohenschönhausen in einer ehemaligen Baracke ein Domizil und Raum für ihre Ängste und Freuden geschaffen / Vergessen kann keiner ■ Von Kathi Seefeld
Als Samir über die Brücke ging, war er zwölf. Da ließ er, ein paar Kilometer nur entfernt von Tuzla, sein Zuhause hinter sich und den Krieg. Doch nein, von dem Krieg hatte er wohl nur gedacht, daß er ihn hinter sich lassen könnte. Die Bilder sind mit ihm über die Brücke gegangen, haben ihn begleitet bis Berlin.
Jenes vom Bruder des Vaters, den sie zwangen, das Blut seiner eigenen, abgeschlachteten Kuh zu trinken, auch das mit dem Pferd, wie sie es an die Wand des Hauses malten und dann immer wieder riefen: „Hey, spring auf!“ Am meisten weh, meint Samir, tat jedoch das Bild des Vaters, als er nach langer Zeit der Flucht hier vor ihm stand.
„Zu Hause, da war er ein Chef, ein angesehener Mann in der Stadt. Zu uns gekommen ist er nur mit dem Hemd, das er auf dem Körper hatte. Alles, sogar seine Jacke, hatte er unterwegs weggeben müssen, bezahlen, damit er wieder ein Stück weiter kam, in Sicherheit.“
Samir ist jetzt fünfzehn. In der „Laube“, jenem Klub, den sich die Bürgerinitiative Ausländische MitbürgerInnen in Hohenschönhausen im März zu ihrem fünften Geburtstag sozusagen selber zum Geschenk machte, hat er keine Scheu zu reden.
Hierher kam er bereits, als das Ganze noch Baracke war, die Nässe in den Ecken klebte und der Putz von den Wänden fiel. Das war im November vorigen Jahres. Da überließ der Bezirk Hohenschönhausen der Initiative das Domizil in der Degnerstraße zu günstigen Konditionen, wenig später sprühte Samir seinen Namen an die Mauern.
„An manchen Tagen waren es zehn, zwölf bosnische Jungen, die sich einfanden, um beim Ausbau des Klubs mitzuhelfen“, erzählt Nicola Lau, Mitarbeiterin der BI. „Und manchmal kamen sie zu Zeiten, in denen sie eigentlich in der Schule hätten sein müssen. Sie ackerten wie wild und redeten sich ihre Sorgen von der Seele.“ In seiner Heimat wäre Samir heute in der neunten Klasse, hier geht er in die siebte. „Wegen der Sprache“, sagt er.
Mit Grausen erinnert er sich an sein Ankommen, an das Nichtverstehen, das ihm schon in Österreich zu schaffen machte, als er mit seiner Mutter und seinem Bruder einen Monat lang mit etwa fünfhundert Flüchtlingen zusammen in einer Halle verbringen mußte. Keinen konnte man nach dem Weg fragen, nichts einkaufen.
Samir lernte schnell. „Heute dolmetsche ich manchmal, wenn neue Flüchtlinge ankommen.“ Neulich einem alten Mann, dem der Unterschenkel fehlte, oder dem Jungen, dem eine Granate den Fuß abgerissen hatte.
In seiner Schule am Malchower Weg ist Samir der einzige Ausländer. Verlegen weist er auf die fehlenden Zähne in seinem Mund. „Nazis haben die kaputtgemacht. Ich kam aus der Schule, und sie fragten mich, ob ich Ausländer sei.“ Der bosnische Junge antwortete mit Ja. Niemand war da, der ihm half.
Von den Wohnheimen in der Gehrenseestraße ist es nur eine Straßenbahnstation bis zur „Laube“. Samir fährt dorthin, sooft es geht. Pingpong spielen, Musik hören, Disko. Und wenn Stephanie, eines der Hohenschönhausener Kids, Kaffeedienst hat, heißt es inzwischen, sei Samir nicht weit.
„Stephanie?“ Der Fünfzehnjährige wird plötzlich sehr schweigsam. Ja, die Eltern wüßten... Und dann beginnt er von seinem Haß zu reden und davon, daß er zurück will nach Bosnien. Gerade weil sein Haus zerstört ist, eben weil sie seine halbe Familie getötet haben. Wenn sein Vater den Brief bekomme, wonach jeder zwischen 18 und 55 nach fünf Monaten zurückkehren kann, werde er mitgehen, und er werde dann kämpfen.
Wobei, ganz gerne würde er auch eine Lehre als Automechaniker beginnen. Über eine Brücke zu gehen und den Krieg einfach hinter sich zu lassen, geht nicht. Nicht beim Fußballturnier, wenn ihn der achtzehnjährige Kumpel Hariz lobt, weil er ein so guter Tormann ist. Nicht, wenn er sich mit Stephanie im Kino bei „Dumm und Dümmer“ ausschüttet vor Lachen.
Nach Ostern werden Samir und seine Freunde mit deutschen Jugendlichen nach Münchehofe fahren. Fünfundzwanzig Leute insgesamt, heißt es seitens der Bürgerinitiative zu dem Projekt. Die deutschen Jugendlichen seien eher der rechten Ecke zuzuordnen. Neben Sport und Freizeitspaß soll geredet werden, über den Krieg zum Beispiel, den deutsche Kinder nur aus den Erzählungen der Großeltern kennen. Vielleicht werden sie sogar begreifen, daß der Krieg auch hier in Berlin nicht zu Ende ist für Samir.
Hier teilt er sich im Wohnheim 30 Quadratmeter, ein Zimmer, mit dem Bruder, der auf eine Berufsschule geht, und den Eltern. Sechzehn Mietparteien leben hier auf einer Etage. Nur eine Toilette gibt es für Männer, eine für Frauen. Nie sei einmal Ruhe, um Hausaufgaben zu machen.
Vater ist arbeitslos, die Mutter habe Glück gehabt und dürfe bei einer deutschen Frau putzen, das Sozialamt habe ihr die Erlaubnis erteilt. An die unzähligen Polizeieinsätze in den Wohnheimen habe er sich in den drei Jahren seines Daseins in Berlin schon fast gewöhnt.
Samir schmunzelt. Stephanie hat ihm statt des gewünschten Apfelsaftes einen aus Orangen aufgetischt. „Ein sehr schöner Klub“, sagt er und erzählt von einem guten Freund, der Serbe ist.
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