Puppengesichtig antikes Revoluzzertum

Atridensprößlinge als jugendlich hilflose Terroristen: In der Berliner Schaubühne ist mit dem „Orestes“ des Vernunftdichters Euripides seit langem wieder ein Inszenierungsexempel der künstlerischen Leiterin Andrea Breth zu sehen  ■ Von Petra Kohse

Nun spielen sie wieder. Nach der Premiere von „Orestes“ merkte man die ungeheure Erleichterung des Ensembles und des Publikums in dem zum Amphitheater umgebauten Saal C der Schaubühne am Lehniner Platz. Es war die erste Inszenierung der künstlerischen Leiterin Andrea Breth seit 16 Monaten, und sie wurde bedenkenlos als ein Erfolg beklatscht.

Anlaßübergreifend manifestierte dieser Applaus wohl, daß man gewillt ist, dieses Theater auch nach mehreren gescheiterten oder geplatzten Projekten im letzten Jahr als einen der „Leuchttürme“ des Berliner Kulturlebens anzusehen und daß man der Regisseurin zu folgen bereit ist, auch wenn sie sich diesmal ungewohnt überdeutlich und überladen auf den Weg gemacht hat.

Andrea Breth hat des Euripides Tragödie über den Atriden-Sprößling „Orestes“ inszeniert und zeigt die weit über 2000 Jahre alten Figuren zweifelsohne als vorchristliche Psychogramme in der Jetztzeit. Zusätzlich hat sie aber auch etliche zeitgenössische Assoziationen einmontiert, was weniger funktioniert, denn kleinteilig läßt sich das antike Drama nicht transponieren.

Wenn die Frauen des Chores an Schreibpulten sitzen und eine plötzlich ungeübt einen Brief tippt, oder wenn ins Geschehen ein Fetzen ausgeblichenes Zelluloid eingeblendet wird, auf dem man die Sequenz eines Kulturfilms über Afrika vermuten kann, dann soll wohl die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts in die Atridengruft einbrechen; aber erstens bleibt das in einem Irgendwie stecken, und zweitens zeigt das nur, was das Theater nicht leisten kann.

Euripides ist ein Moderner unter den Antiken. Zu Lebzeiten (480-406 v.Chr.) kaum geliebt, von den Dramatikern der Neuzeit gern gefleddert, brachte er des Menschen Vernunft ins Spiel. Wo bisher olympisches Gesetz dem Handeln Sinn und Richtung gab, beginnen die Figuren bei ihm zu zweifeln – und damit noch mehr zu irren.

So ist sich der Muttermörder Orestes hier der Sinnlosigkeit seiner Tat durchaus bewußt. Denn er hat damit zwar seinen Vater Agammemnon gerächt, lebendig jedoch wird dieser deswegen auch nicht wieder. Weil er aber das Bild von sich als Held nicht aufgeben mag, eiert Orestes weiter auf falschem Kurs, zwischen blind-blutigem Aktivismus und schierer Agonie. Ein ebenso eitles wie orientierungsloses Jüngelchen, das Ulrich Matthes entsprechend hilflos spielt, mit puppigem Blick und aufgesetzter Revoluzzer-Attitüde.

Zweckmäßig treu, vom Ehrgeiz zerfressen

Orestes' Schwester Elektra (Andrea Clausen), ist ihm inzestuös zugeneigt und ergeben. Einerseits. Andererseits ist diese Elektra- Treue nur zweckmäßig, denn ohne den Bruder zählt die Schwester nichts in der Gesellschaft. Und von hochmütigem Ehrgeiz ist auch sie zerfressen. Auch der treue Freund Pylades (Hans-Werner Meyer) hat eigene Gründe, an Orestes zu glauben: Als Handlanger beim Mord an Klytaimnestra ist er ebenfalls zum Outcast geworden, und als das Volk den Tod der Geschwister beschließt, will er mit sterben – ein Trittbrettfahrer des großen Leides.

Mag der Einzeltod heroisch wirken, der Dreifachtod tut es nicht. So wollen sie ihren Namen wenigstens noch rasch mit dem Mord an der kaltblütigen Helena umkränzen, die vom Volk noch mehr gehaßt wird als Orestes. Breth zeigt die antiken Jugendlichen als ein Trio der Gescheiterten, die ihre Hilflosigkeit als gesellschaftliches Engagement deklarieren und zu Terroristen werden. Eine niederschmetternd fatalistische Erkenntnis, die so neu nicht ist: alles Tun ist eitel. Schließlich läßt Orestes gar sein Elternhaus in Brand setzen. Es knallt infernalisch, die Schießschartenfensterchen flimmern wie Videoschirme, und nachher ist es wie im Schlachthaus. Dann aber kommt textgetreu Apollon aus der Höhe, um die Verhältnisse wieder zu ordnen.

Die Absurdität dieses Deus-ex- machina-Schlusses verüberdeutlicht die Regisseurin dadurch, daß sie den schwarzen Schauspieler Nicholas Monu nackt über die Bühne schaukeln läßt und der Chor der Frauen seine altgriechisch gesprochenen Worte übersetzen muß. Dabei ist doch, sieht man von den Modernismen ab, stets und ständig alles schon überaus deutlich.

Bereits der Raum von Susanne Raschig interpretiert das Drama komplett. Zwischen Betonplatten sind auch die Zuschauer gefangen, die halbrunde Bühne ist in drei Freudsche Ebenen eingeteilt. Unten irrlichtern irgendwann ein paar Flämmchen, oben geistern die Götter oder was von ihnen geblieben ist; am Ende rollt Corinna Kirchhoff dort als unverwundbare Helena in marmorner Schönheit vorbei. Der Boden der Spielebene ist rissige Erde, ein Häuflein Lavafelsen kontrastiert mit einem stählernen und von Menschenhand leicht verschiebbaren Rechteck, das hoch aufragt. Die Tradition hat abgewirtschaft, die Vernunft wird nach Bedarf gewendet und mißbraucht.

Optimismus erwartet man bei Andrea Breth nicht, aber bisher gewährte sie doch Schönheit oder die Mystik eines Augenblicks. Jetzt tönt der Endzeitgesang aus allen Ritzen, und Pfeile weisen noch darauf. Rettung in der Ambivalenz verheißt nur ein gelegentliches Hubschrauberdröhnen. Wenn nur das gewesen wäre und das bloße Spiel.