Das Antlitz des Massenmordes

Vor zwanzig Jahren errichteten die Roten Khmer ein Regime von unvorstellbarer Grausamkeit in Kambodscha. Bis heute ist über ihren Führer Pol Pot kaum etwas bekannt  ■ Von Michael Schiffmann

Wie ist es möglich, daß ein Mensch, der in seiner näheren Umgebung aufrichtig bewundert und geliebt wird, der ruhig, freundlich und bescheiden ist und selbst Menschen, die im Rang weit unter ihm stehen, von gleich zu gleich behandelt, verantwortlich ist für eines der autoritärsten Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und Hunderttausende brutaler Morde?

Dem von Pol Pot geführten Regime der Roten Khmer fielen mehr als eine Million Menschen zum Opfer. Wer ist der Mann, der mehr als jede andere Person mit dessen mörderischen Exzessen in Verbindung gebracht wird?

Daß in der hervorragenden politischen Biographie Pol Pots, die der führende Kambodscha-Kenner David Chandler verfaßt hat, über Pol Pots persönliches Leben fast nichts zu erfahren ist, ist kein Zufall: eine an Paranoia grenzende Obsession mit Geheimhaltung war und ist typisches Kennzeichen der Bewegung der Roten Khmer.

Pol Pot wurde im Mai 1928 unter dem Namen Saloth Sar als Sohn reicher Bauern in der kambodschanischen Provinz Kompong Thom geboren. Im Alter von sechs Jahren wurde er von seinen Eltern zu Verwandten in die Hauptstadt Phnom Penh geschickt, wo er, wie in Kambodscha üblich, in einem Kloster lesen und schreiben lernte. Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verliefen vollkommen unspektakulär: Grundschule, Sekundarschule im Internat, Technische Schule (als Zimmermann). Nichts in diesen frühen Jahren, hebt Chandler nach Gesprächen mit seinen überlebenden Brüdern und Mitschülern hervor, schien Saloth Sar für eine zukünftige Führungsrolle zu prädestinieren. Nichts weist auch auf die spätere Grausamkeit seines Regimes hin. Er scheint ein mittelmäßiger, unambitionierter Schüler gewesen zu sein. Und sein Bruder Saloth Suong sagt nach seinem Sturz über ihn: „Der verachtungswürdige Pol Pot war ein reizendes Kind.“

Von 1949 bis Ende 1952 hielt sich Saloth Sar zum Studium der Radioelektrizität in Paris auf. Es war der „Hochsommer“ der kommunistischen Bewegung in Frankreich, und Sar interessierte sich in dieser Zeit weniger für die Gesetze des elektrischen Stroms als für die „der Geschichte“: kurz nach seiner Ankunft trat er einem marxistischen Studienzirkel bei (an dem sich im Laufe der Jahre fast sämtliche der späteren Führer der Roten Khmer beteiligten), und kurz vor seiner Abreise der KPF.

Auch während seines Aufenthaltes in Paris bemerkten nur wenige seiner dortigen Gefährten Ungewöhnliches an Saloth Sar, aber zumindest einem Zeugen zufolge brüstete der sich damals wiederholt mit Zielstrebigkeit: „Ich werde die revolutionäre Organisation leiten, ich werde ihr Generalsekretär sein, ich werde über die Dossiers (der Mitglieder) verfügen, ich werde die Minister kontrollieren und dafür sorgen, daß sie nicht von der im Interesse des Volkes vom Zentralkomitee festgelegten Linie abweichen.“ In seinem späteren Leben als Kommunist in Kambodscha hat sich Saloth Sar/ Pol Pot nie mehr auf diese Weise persönlich exponiert.

Die darauffolgenden wechselvollen vierzig Jahre kambodschanischer Geschichte, die es Pol Pots Pariser Clique erlaubten, zwischenzeitlich die Macht zu ergreifen und sie, im wörtlichen Sinne, zu exekutieren, können hier nur gestreift werden. Die maßgebenden Faktoren für Pol Pot waren der unversöhnliche Kampf gegen die in Kambodscha herrschende Monarchie Prinz Sihanouks und die Rivalität zur kommunistischen Bewegung Vietnams, des historischen „Erbfeindes“ Kambodschas.

Der vor allem unter den Bauern populäre Prinz Sihanouk, der in den 50er und 60er Jahren nicht nur sein Land mittels geschickter Neutralitätspolitik aus dem Indochinakrieg heraushalten konnte und erfolgreich ein internationales Image von Kambodscha als „Land des Lächelns“ prägte, war nichtsdestoweniger innenpolitisch ein brutaler Despot.

Chandler beschreibt, wie die sozialen Gegensätze in Stadt und Land aufbrachen und sich unter diesen Bedingungen die kambodschanische KP in den 50er und 60er Jahren neu formierte. 1953 bis 1963 finden wir Pol Pot als Lehrer für Französisch, Geschichte, Geographie und Staatsbürgerkunde an einer Privatschule in Phnom Penh. „Faszinierenderweise liefern alle Beobachtungen das ähnliche Bild eines in sich ruhenden, sich gelassen verhaltenden Lehrers, der seine Schüler mochte, redegewandt, aber unprätentiös, offen und menschlich, mit dem man – bis zu einem gewissen Grad – leicht Freundschaft schließen konnte und den man gern respektierte“, schreibt Chandler über diese Zeit.

1963 gelangt Pol Pot an die Spitze der Partei. Seine Träume von der Festlegung „der Linie des Zentralkomitees im Interesse des Volkes“ müssen jedoch noch einige Jahre warten. Noch ist Sihanouk fest im Volk verankert; die vietnamesischen Genossen und Mentoren ermuntern wegen dessen US-feindlichen Neutralismus zur Zurückhaltung statt zum Kampf. Auch aus einem Bauernaufstand in der Provinz Battambang kann die KP nur eine bescheidene Guerillabewegung entfachen. Immer wieder müssen Pol Pot und seine Genossen im ZK die recht widerstrebend gegebene Hilfe der vietnamesischen Kommunisten in Anspruch nehmen; das Mißtrauen der Gruppe um Pol Pot gegen letztere verfestigt sich in dieser Zeit zum Haß.

1970 ist die Stunde der Roten Khmer gekommen. Sihanouk wird von der proamerikanischen kambodschanischen Rechten um General Lon Nol gestürzt, und auch die vietnamesischen Kommunisten engagieren sich nun voll im heftig aufflammenden kambodschanischen Bürgerkrieg.

Erst die unwahrscheinliche Kombination von Kräften, die sich nun ergab, katapultiert die von der Gruppe um Pol Pot dominierte Partei in eine Position, von der aus ein aussichtsreicher Kampf um die Macht gewagt werden kann: Sihanouk ruft von Peking aus zum bewaffneten Widerstand gegen Lon Nols Staatsstreich auf und verkündet die Bildung einer nationalen Einheitsfront mit den „Roten Khmer“.

Ohne das „Überschwappen“ des amerikanischen Vietnamkrieges auf ein schwaches, politisch fragiles Land wie Kambodscha wäre Pol Pot wahrscheinlich ein Provinzterrorist wie Abimael Guzmán vom „Leuchtenden Pfad“ in Peru oder die Führer der Naxalbari-Bewegung in Indien geblieben, die ähnliche Ziele – die physische Auslöschung des Klassenfeindes, den sofortigen Sprung in den Kommunismus etc. – verfolgten beziehungsweise verfolgen. Der proamerikanische Putsch Lon Nols und die Intervention der USA in Kambodscha jedoch versetzen Saloth Sar in die Lage, wirksam „über die Dossiers (zu) verfügen und die Minister (zu) kontrollieren“: hinter dem Schirm der Popularität Sihanouks und der vietnamesischen Revolutionsarmee eliminiert er im verborgenen all deren Anhänger: die Roten Khmer ziehen schließlich 1975 als alleinige Sieger in Phnom Penh ein und machen sich ungehindert an die sofortige Verwirklichung der von ihnen geplanten radikalen Revolution.

Innerhalb von nur fünf Jahren hatten die Roten Khmer gesiegt, und einmal im Besitz der Macht, setzen sie ihre Pläne mit unbeirrbarer Entschlossenheit in die Tat um. Die Erfindung des Demokratischen Kampuchea (so der offizielle Name des Regimes) lautet die außerordentlich treffende Überschrift eines Kapitelabschnitts in Chandlers Buch, und genau so, als könnte man eine soziale Realität einfach neu erfinden, gehen die Roten Khmer nun vor. Wenn bei diesem (in Übertrumpfung Chinas) „supergroßen Sprung“ in den Kommunismus zahlreiche „Feinde“ exekutiert werden mußten oder auf der Strecke blieben, war es darum nicht schade: „Dich zu behalten ist kein Gewinn, dich zu vernichten kein Verlust“, pflegten die unteren Kader des Regimes denen zu sagen, die mangelnder Begeisterung für die Ziele des Regimes verdächtig waren.

Hunderttausende von Menschen starben an Hunger und Überarbeitung und den damit verbundenen Krankheiten, aber Pol Pot und seine Genossen revidierten ihre wahnhaften Ziele nicht. Die Basis des Regimes brach auch unter den Ärmsten der Armen zusammen, und da Opposition Verrat war, reagierten die Roten Khmer mit immer massiverem Terror und Liquidierung der Abtrünnigen.

Der Schlußakt des Regimes war sein Krieg mit Vietnam. Mag die „Bauernrevolution“ Pol Pots auch nicht authentisch gewesen sein, sein in langen Jahren angesammelter Haß auf das „expansionistische Vietnam“ war es und: „Vielleicht sah er (Pol Pot) die Kämpfe mit Vietnam als einen Weg, Solidarität zu schaffen und die Unruhe zu vermindern“, wie Chandler schreibt.

44 Monate nach dem Machtantritt Pol Pots war die Unterstützung für sein Regime im kambodschanischen Volk so gering geworden, daß der vietnamesische Feind es um die Jahreswende 1978/79 innerhalb von zwei Wochen überrennen konnte. Die Unterstützung seiner chinesischen Protektoren und, in verdeckterer Form, des antivietnamesisch gesinnten Westens rettete seine Überreste über die Zeit hinweg.

Ihr Ziel, die Macht zurückzuerobern, haben die Roten Khmer auch nach dem Abzug der Vietnamesen im September 1989 und den unter UNO-Aufsicht durchgeführten Wahlen von 1993 nicht aufgegeben. Von Pol Pot sprechen sie in der Öffentlichkeit nicht mehr. Aber intern bleibt er, was er in den langen Jahren des Kampfes für sie geworden ist: „Bruder Nr. 1“.

Heute ist Pol Pot, wie Chandler formuliert, ein „reumütiger Optimist“. In einer Rede vor Kadern 1981 sagte er, „er wisse, daß viele Menschen im Land ihn hassen und glauben, er sei verantwortlich für die Tötungen. Er sagte, er wisse, daß viele Menschen starben. Als er das sagte, fehlte wenig, und er wäre zusammengebrochen und hätte geweint.“ Aber in der Folge sagte er, „das Hauptproblem seien die Kader gewesen, die die Vietnamesen ausgebildet hatten“ – zu denen er natürlich sich selbst nicht zählte.

Im Gegensatz zu vielen anderen versucht Chandler in seinem Buch nicht, Pol Pot als ein „unkambodschanisches“ Phänomen darzustellen. Er verfällt nicht in das Klischee vom „Land des Lächelns“. Er leugnet nicht Ausbeutung, Unterdrückung und brutalen Autoritarismus, die in der kambodschanischen Geschichte ihren Platz gehabt haben. Gerade sein zurückhaltendes persönliches Wesen und sein Mangel an ostentativem Herrschaftsverhalten im unmittelbaren Kontakt mußten Pol Pot in den Augen seiner Anhänger aus der Reihe der Führer seiner Zeit herausheben.

Gleichzeitig gibt es, wie Chandler anhand einer Studie von Christophe Peschoux, Enquête sur les „nouveaux“ khmer rouges: essai de débrouissaillage, zeigt, keinerlei Anzeichen dafür, daß die partielle Wahrnehmung der unzähligen grausamer Gewalt und anderen Umständen geschuldeten Opfer seiner Herrschaft ihn oder die „neuen Roten Khmer“ dazu veranlassen würde, „der Möglichkeit massiver Menschenrechtsverletzungen“ abzuschwören, sollte sein Regime „wieder an die Macht kommen“.

Chandler gibt nicht vor, die kambodschanische Katastrophe erklären zu können, nicht einmal die Person Pol Pot. Beide bleiben am Ende rätselhaft, wie die von den Deutschen installierten Mordfabriken wie Auschwitz oder Treblinka und die anderen oder der Gulag der Sowjetunion. Chandlers Buch erlaubt uns, einen näheren Blick auf dieses Rätsel zu werfen.

Man könnte sich fragen, warum an dieser Stelle ein englisches Buch besprochen wird. Der Grund hierfür ist jedoch sehr einfach: Es gibt bis auf die beiden Bücher Michael Sontheimers von einigen sehr speziellen Untersuchungen abgesehen keine deutschsprachige Literatur zur jüngeren Geschichte Kambodschas. Dabei hat gerade die zunächst schwierige Quellenlage in bezug auf Kambodscha allgemein, besonders aber im Hinblick auf die Roten Khmer und das Pol-Pot-Regime eine Reihe hervorragender Studien amerikanischer, australischer, englischer und französischer Kambodscha-Spezialisten hervorgebracht, die durchaus auch für ein breiteres Publikum lesbar sind. Von keiner gibt es eine deutsche Übersetzung.

Foto von Pol Pot 1979: AP

David P. Chandler: „Brother Number One. A Political Biography of Pol Pot“, Westview Press 1992

David P. Chandler: „The Tragedy of Cambodian History. Politics, War and Revolution since 1945“, Yale University Press 1991

Christophe Peschoux: „Les ,nouveaux‘ khmer rouges, 1979–1990“, L'Harmattan, 1992

Serge Thion: „Watching Cambodia“, White Lotus 1993

Michael Sontheimer: „Im Schatten des Friedens. Ein Bericht aus Vietnam und Kampuchea“, Rotbuch 1989

Michael Sontheimer: „Kambodscha – Land der sanften Mörder“, Rowohlt 1990