Flüstern, Schreien, Stottern

■ Verdis „Messa da Requiem“ im Dom unter der Leitung von Wolfgang Helbich

Der Dom schien auseinanderzubrechen, als der Bremer Domchor und die Kammer Sinfonie Bremen das „Dies Irae“ aus Verdis „Requiem“ explodieren ließen. Mit unglaublicher Wucht wurden die „heulende“ Chromatik des Chores durch das alte Gemäuer gejagt, das gewaltige Raumcrescendo der Trompeten, Posaunen, Hörner und Tuben im „Tuba mirum“.

Die immer wieder gestellte Frage, ob dieses Werk nicht eine verkappte Oper, gar Verdis größte, sei, erledigte sich wie von selbst. Denn der liturgische Text ist selbt zutiefst dramatisch, formuliert in seinen emotionalen Kontrasten zwischen äußerster Angst und größter Zuversicht nahezu alles, was die menschliche Seele jenseits konfessioneller Zugehörigkeiten fühlen könnte.

Giuseppe Verdi hatte sich in zahlreichen Briefen immer wieder über die Selbstherrlichkeit der Dirigenten und SängerInnen, über deren Mißachtung des Notentextes beklagt. Wolfgang Helbich nahm die Partitur äußerst ernst, schien keine einebnenden Kompromisse machen zu wollen, forderte allen und sich selbst alles ab. Nach sechs erfolgreichen Gastspielen in Frankreich konnte er am Karfreitag eine enorm vitale Aufführung gestalten, die noch lange im Gedächtnis haften bleiben wird.

Hier können nur einige zentrale Aspekte genannt werden: zum Beispiel die hohe Wertschätzung des Textes; die Genauigkeit in der instrumentalen Umsetzung – ein Bravo der Kammer Sinfonie! –; und der Mut, extreme Fortissimo- wie auch Pianissimostellen ins Geräusch kippen zu lassen. Durch die genaue und disziplinierte Wiedergabe wurde der ganze emotionale Reichtum dieser Partitur auf das Schönste entfaltet. Deklamieren, Singen, Stottern, Flüstern, Rufen, Schreien – alles gibt Verdi vor mit Interpretationsforderungen wie „Äußerst leise, mit düsterer Stimme und sehr traurig“.

Ein Glücksfall war die Zusammensetzung der Solisten, die nach Verdis Forderung eins nicht dürfen: Opernarien singen. Die Sopranistin Sabine Ritterbusch verfügt über eine traumhaft mühelose Pianogestaltung auch in den höchsten Lagen, die Mezzosopranistin beeindruckte durch kraftvolle und frische Präsenz, der Tenor Frank van Aken bot belcantistischen Schmelz, und Harry van der Kamp, geschult in der Wiedergabe Alter Musik, ließ seinen Baß wohltuend ohne das geringste Vibrato erklingen. Der Ausdruckreichtum der SolistInnen wurde von Wolfgang Helbich überragend in das Gesamtkonzept eingebracht. Die Aufführung ließ im zweiten Teil spannungsmäßig merklich nach, aber das soll bei einem solchen Niveau kein Kritikpunkt sein.

Vor hundert Jahren warf man Verdi die „romanische Barbarei“ dieses Werkes vor, meinte, „daß er viel schärfere, schrillere Nuancen wählte, als man in Deutschland gewohnt ist“. Diese ästhetische Enge ist uns heute fremd. Der Komponist selbst hatte voller Ironie sein gewaltiges Werk so eingeschätzt: Er habe es „zur höheren Ehre Gottes“ geschrieben, „vielleicht aber auch nur zur zukünftigen Langeweile meiner Mitmenschen“. Nun mögen vielleicht einige aus Langeweile gekommen sein: Alle jedoch haben im ausverkauften Dom eins der größten Werke der Literatur in einer durch und durch aufregenden Wiedergabe erlebt.

Ute Schalz-Laurenze