Staatenlos in den Knast?

■ Zwei aus der Libanesen-Gang verurteilt / Traumatisiert vom Krieg und ohne jede Förderung

Wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung verurteilte die 1. Jugendkammer jetzt zwei junge Libanesen zu vier Wochen Jugendarrest beziehungsweise zu acht Monaten Jugendstrafe auf Bewährung. Sie hatten im August 1994 den Geschäftsführer des Restaurant „Marché“ zusammengeschlagen und anschließend einen Kaufhausdetektiv angegriffen (siehe taz vom 3., 12. und 16.4.).

Das Gericht folgte dem Antrag des Staatsanwaltes Jürgen Schmundt. Er hält die Strafe für angemessen, zumal die hinter den Vorfällen steckenden gesellschaftlichen Probleme mit Haftstrafen nicht zu lösen sind. „Da müßte in der Jugendarbeit viel mehr geschehen. Wir sind doch die letzte Adresse, aber manchmal auch die einzige, die überhaupt reagiert, weil sie reagieren muß.“

Bernd Rein vom Amt für soziale Dienste fungierte in dem Prozeß als Jugendgerichtshelfer des Hauptangeklagten. Auch er hält das Urteil für „vertretbar“, obgleich sein Klient, der 20jährige Mahmut A., zu acht Monaten verknackt wurde. Allerdings auf Bewährung. „Bei Jugendlichen ist Knast immer abzulehnen.“ Zum einen, weil Delinquenz allgemein eine „Übergangsphase im Jugendalter“ darstelle, zum anderen, weil möglicherweise vorhandene Sozialisationsdefizite hinter Gittern sicher aufgehoben seien.

Mahmut A. erlitt im Alter von 18 Monaten eine schwere Kopfverletzung, die unter Bürgerkriegsbedingungen notdürftig operiert wurde. Fortan galt er in der Familie als der Kranke und wurde entsprechend beiläufig behandelt. Als er 12 Jahre alt war, wurde in seinem Beisein der Vater erschossen. „Das hinterließ mit Sicherheit ein Trauma“, vermutet Rein. Zwei Brüder Mahmuts starben im Bürgerkrieg, bevor die alleinerziehende Mutter sich mit ihren Kindern zur Flucht nach Deutschland entschloß.

Die innerfamiliäre Isolierung Mahmuts setzte sich in der Schule fort. Auch dort fand er keinerlei Anschluß, er ist Analphabet. Die Überforderung der LehrerInnen in multikulturell geprägten Klassen sieht Rein als großes Problem. Eine individuelle Förderung, zugeschnitten auf den Bedarf der einzelnen SchülerInnen, scheitere immer wieder am Schulsystem. Mahmut lehnte die Schule konsequent ab. Er spricht allein kurdisch, doch damit versteht ihn kaum jemand. „Ihm fehlt damit jegliche intellektuelle Handlungskompetenz“, schließt Rein. Neue Werte, alles, was mit hiesigen Sitten zu tun hat, konnte Mahmut überhaupt nicht begreifen.

Er zog sich in die Clique zurück. Mit den anderen libanesischen Jugendlichen ließ sich Deutschland besser ertragen. „Sie leiden unter dem Stigma als Asylbewerber“, meint Rein. Es verletze ihren „arabischen Stolz“, daß man ihnen einen Status zugewiesen hat, statt daß sie sich selbst einen erarbeiten können. Schnell eiferten die Jugendlichen jenem „Haste was, biste was“ nach und versuchten durch Einbrüche zu kompensieren, was ihnen, versagt bleibt: eine Position in der Gesellschaft einzunehmen. Während sich der kurze materielle Aufstieg zum rigorosen Abstieg entwickelte, blieben bestimmte Familientraditionen verbindlich: Mahmut war verlobt worden und sollte demnächst verheiratet werden. Zwischen diesen alten Traditionen und den neuen Statussymbolen werde das Selbstbewußtsein der Jugendlichen regelrecht zerrieben, sagt Rein.

Mahmut wird jetzt bei einem Onkel im Emsland weiterleben, wo er, wie Rein hofft, eventuell auch arbeiten kann. „Im Libanon hätte Mahmut vielleicht eine ganz andere Karriere machen können.“ Hier aber lasse man den Jugendlichen keine Chance. Niemand will sie, weder der Libanon, der die Einreise verweigert, noch die Deutschen, die den Staatenlosen lediglich eine Duldung geben. „Damit ist der Sozialhilfestatus festgeschrieben, da kommen die nie mehr raus.“

Das, meint Bernd Rein, müsse geändert werden. Dem neuen Konzept, mit dem Sozialsenatorin Gaertner neun StreetworkerInnen in Bremer Straßen schickt, mißt er nur wenig Bedeutung zu: „Das geht in die Hose.“ Ein deutscher Sozialarbeiter werde von den libanesischen Kurden nicht ernst genommen, weiß Rein, der in Obervieland, einem Gebiet mit allein 120 minderjährigen LibanesInnen, gemeinsam mit einem Palästinenser ein Jugendprojekt aufbaut. „Man muß in die Familien gehen und deren Sprache sprechen, sonst erreicht man die Jugendlichen nicht.“

Allerdings warnt er vor der Pädagogisierung der Sozialarbeit. Viel wichtiger sei, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und die Sonderegelungen des Ausländerrechtes abzubauen: „Warum gibt es die? Weil man die Ausländer nicht hier haben will. Aber das sind Menschen, die hier leben und zwar auf Dauer. Man muß anfangen, sie darin ernstzunehmen.“ dah