Ungarn läuft aus dem Gleis

■ Eisenbahnerstreik gegen Sparpläne der Regierung / Sanierung des Staatshaushalts durch Konsumreduzierung

Berlin (taz) – Die Angestellten in Ungarns größtem Unternehmen, den Ungarischen Staatsbahnen (MÁV), streiken. Seit gestern null Uhr hat die Mehrheit der rund 70.000 MÁV-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen die Arbeit niedergelegt. Der internationale Personen- und Güterverkehr wurde völlig eingestellt, im Inland verkehren nur noch zehn Prozent der Züge. Die Eisenbahnergewerkschaft hat den Streik auf unbefristete Zeit ausgerufen und will ihn erst dann abbrechen, wenn das MÁV-Management ihre Forderungen erfüllt hat: Nettolohnerhöhungen sowie bessere Arbeitszeit-, Überstunden- und Urlaubsregelungen, die in einem kollektiven Arbeitsvertrag festgelegt werden sollen.

Das MÁV-Management hat die Forderungen der Angestellten bisher vor allem mit Berufung auf die schlechte finanzielle Situation des Unternehmens abgelehnt. Die MÁV erwirtschaftet seit Jahren Verluste in Millionenhöhe, die aus dem Staatshaushalt bezahlt werden müssen. Der neue Vertrag der MÁV mit dem ungarischen Staat, der Anfang Februar unterzeichnet wurde, sieht deshalb eine drastische Sanierung des Unternehmens vor. Durch finanzielle Einsparungen und Streckenstillegungen, mit denen bereits Ende Februar begonnen wurde, soll nun erreicht werden, daß die MÁV bis Ende nächsten Jahres einen Nullsaldo in der Bilanz aufweist.

Der Streik der ungarischen Eisenbahner gegen diese Sanierungsmaßnahmen hat allerdings nicht nur deshalb Bedeutung, weil er beim größten ungarischen Arbeitgeber stattfindet. Er ist auch der größte Arbeitskonflikt seit dem Amtsantritt der sozialistisch-liberalen Regierung im Juli letzten Jahres, deren umfangreiche Sparmaßnamen letztlich Auslöser des Streikes sind.

Dabei hat die Unzufriedenheit nicht nur der ungarischen Eisenbahner, sondern der meisten Ungarn einen neuen Höhepunkt erreicht, seitdem der Finanzminister Lajos Bokros am 12. März sein „Stabilitätspaket“ bekanntgab. Im Zuge dessen wurde der Forint mit sofortiger Wirkung um neun Prozent abgewertet und außerdem eine gleitende Abwertung um täglich 0,06 Prozent eingeführt. Die Maßnahme soll, zusammen mit drastischen Importzöllen, einen Aufschwung der Exporte, eine Verringerung des Verbrauches im Inland und einen Ausgleich des Zahlungsbilanzdefizites von vier Milliarden Dollar bewirken.

Gleichzeitig kündigte der Finanzminister an, daß staatliche Sozialleistungen wie Kinder- und Familienbeihilfe gestrichen oder gekürzt und die Löhne der Angestellten im öffentlichen Dienst weniger erhöht würden als geplant. Außerdem stehen umfangreiche Entlassungen im öffentlichen Dienst bevor, der mit fast einer Million Angestellten ein Viertel aller Arbeitnehmer beschäftigt. Auf diese Weise will der Finanzminister 170 Milliarden Forint (rund zwei Milliarden Mark) einsparen und den seit Jahren hochverschuldeten Staatshaushalt sanieren.

Zwar meint der Finanzminister, Ungarn stehe vor dem Bankrott, wenn mit seinen Sparmaßnahmen nun nicht die „letzte Chance“ ergriffen werde.

Doch angesichts von Stellenabbau, Reallohnkürzungen und einer zu erwartenden Inflation von 24 bis 26 Prozent in diesem Jahr gehen nicht nur die Eisenbahner auf die Barrikaden. Auch andere Gewerkschaften, etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich, erwägen, der Regierung den sozialen Frieden aufzukündigen, falls sie nicht zu Kompromissen bei ihren Sparplänen bereit sei. Diese Drohung könnte bald zu einer praktischen Kraftprobe werden, erklärte der Regierungschef Gyula Horn doch kürzlich im Fernsehen die unbedingte Notwendigkeit der Sparmaßnahmen. Er drohte seinerseits: „Das ist erst der Anfang.“ Keno Verseck