Mit Treckern und Kindern

Am Samstag haben 4.000 Menschen im Wendland gegen den Brennelemente-Transport aus Philippsburg demonstriert – friedlich, aber hartnäckig  ■ Aus Dannenberg Jürgen Voges

Zwölf Uhr mittag. Neben der Rednertribüne vor dem Ratskeller stehen links und rechts zehn Traktoren. „Stoppt den Castor“ steht auf den Plakaten. Von „1.000 Demonstranten“ auf dem Dannenberger Marktplatz ist in den Radionachrichten die Rede. 4.000 müssen es in jedem Fall sein, die „unten noch mal ganz kräftig rütteln wollen, damit sich da oben bei den Politikern noch etwas tut“, wie Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative ausruft.

Der Platz zwischen Fachwerkhäusern ist gefüllt. Die Kundgebung vor dem Ratskeller mit seinen angedeuteten Säulen an der Fassade reicht bis in die Straßen hinein. „Es ist fünf nach zwölf, aber wir kommen nicht zu spät“, hat Ehmke seine Rede begonnen. Er kann von den „Freunden in Philippsburg“ berichten, „die dort gerade den Bahnhof besetzen.“ Das geschieht am Sonntag tatsächlich. Im Landkreis haben schon am Samstag früh um sechs Bauern mit 41 Traktoren eine Polizeikaserne in Gorleben blockiert. „Wir sind entschlossen, es nicht bei dieser Kundgebung zu belassen“, ruft der BI-Sprecher, die Demo antwortet mit Applaus und Freudenpfiffen. „Wir sind auf der Straße und bleiben auf der Straße, wenn der Sonderzug kommt.“

Mut machen, an die früheren Erfolge erinnern sollen die Gastrednerinnen aus Wackersdorf und Whyl. „Etwas von der Solidarität zurückgeben, die wir aus dem Wendland erfahren haben“, will Irene Maria Sturm, Sprecherin der Oberpfälzer BIs gegen Atomanlagen. Doch einen Bus voller AKW- Gegner hat sie nicht mitgebracht. „Ihr seid der Dorn im Fleisch der deutschen Atommafia“, heißt der umjubelte Gruß aus Whyl, „wo wir damals vor 20 Jahren noch ganz ohne Erfahrung begonnen haben.“

Die meisten, die hier auf dem Marktplatz stehen, waren bestenfalls Säuglinge, als in Whyl zum ersten Mal ein AKW-Bauplatz besetzt wurde. Natürlich sind auch die bekannten Gesichter aus dem Wendland da, grüne Abgeordnete und Eltern mit Kindern, samt Verpflegungsrucksack. Vor allem aber ist die dritte Generation gegen die Atomkraft auf den Beinen. Jugendliche aus dem Landkreis und den benachbarten Gebieten, vier Busse aus Hamburg. Junge Männer tragen neben bunten auch wieder lange Haare.

Rock, Perücke, Brille – von der Tribüne herab verkündet ein älterer Herr als „uralte Wendländerin Frau Roswitha Pubvogel“ das Ziel der Demonstration: Alle sollen sich umdrehen und in Richtung Gleisdreieck marschieren, wo die Castor-Bahnstrecken aus Lüneburg und Uelzen zusammenlaufen.

Ein Lager auf den Schienen soll es werden. Vorne Traktoren und dahinter wohl jene Gruppe von Demonstranten, die gerade im Radio als „etwa 250 gewaltbereite“ unter nunmehr „mehreren tausend Kundgebungsteilnehmern“ bezeichnet werden. Durch eine Wäscheleine haben sie sich von den übrigen abgegrenzt, hin und wieder hat mal einer ein Tuch vor dem Gesicht, sonst unterscheiden sie sich nicht von den anderen: Jeans, Sweatshirt, mal grau, mal bunter, mal ein Stopp-Castor-T-Shirt, Ruck- und Schlafsäcke.

In Gassen rechts, die zu den Gleisen führen, ist die Polizei massiv aufgezogen. Erst einen knappen Kilometer weiter am Ortsrand läßt sich eine Sperre von nur 20 Beamten umgehen. Nur noch eine Kette von Schutzpolizisten aus Magdeburg trennt die Spitze der Demo von den Schienen. Einzelne schaffen es bis auf die Gleise, legen sich hin, werden übel traktiert, den Bahndamm hinuntergeschubst. Dann erhalten die Polizeiketten Verstärkung, auch links und rechts der Straße zieht in den Gärten Polizei auf – die Spitze des Zuges ist eingeschlossen. Im Rundfunk kommt bald die Nachricht, die „Gewaltbereiten“ hätten „mit Stahlkugeln geschossen“. Erst am nächsten Tag dementiert die Polizeipressestelle in Lüneburg, sie spricht von einem „unbestätigtem Gerücht“.

In Wahrheit wird es in und vor dem Polizeikessel vor allem eng. Die Polizei schlägt auch mit ihren Schilden auf die vorn stehenden Demonstranten ein. Handgemenge, Polizisten schlagen mit dem Knüppel zu. Hubschrauber verstärken den Bundesgrenzschutz, der jetzt auch noch an den Bahngleisen steht.

Die Bahngleise sind unerreichbar. Als auch die Eingegekesselten wieder draußen sind – manche auf Schleichwegen durch die Gärten, verkündet der Lautsprecherwagen, daß „viele schon zum Zwischenlager unterwegs“ sind. Ein Codewort heißt „Schwarzpulver“ Wer mobil ist, bricht in den immerhin 20 Kilometer entfernten Wald auf. Auch dort sperrt die Polizei weiträumig ab. Aber es gibt mehr Schleichwege, das Versammlungsverbot fünfhundert Meter rund ums Zwischenlager ist nicht durchzusetzen. 600 gelangen bis zum Trafo-Häuschen, wollen das Widerstandscamp „Castornix“ neu errichten, ebenso viele kommen von Norden bis ans Zwischenlager heran. Die Polizei droht mit Räumung, die Castorgegner sitzen untergehakt unter den Kiefern, singe „Wehrt euch, leistet Widerstands ...“ Und: „Wir wollen keine Atomkraft, wir wollen leben, leben, leben wollen wir.“

Eine Stimme im Megaphon sagt: „Drüben sitzen jetzt noch etwa 100.“ Stille – als die Polizei zur Räumung schreitet. „Wollen Sie aufstehen?“ – „Nein“. Dann packen zwei oder drei Beamte zu, tragen oder schleifen die Besetzer weg. Fernsehkameras laufen, vor allem bei Grünen-Abgeordenten, wie Rebecca Harms oder Undine von Blottnitz. Die Polizeisprecher reden mit den Chefs, die wiederum mit ihren Beamten: Die Bilder sollen nicht zu übel ausfallen.

Nur wenige Gefängnisbusse stehen zum Abtransport bereit. Es geht zurück nach Lüchow. Mit der hereinbrechenden Nacht gibt die Polizei auf. Die letzten 200 können im Wald übernachten. Am Sonntag sitzen sie schon wieder in Dannenberg auf den Gleisen.