: Flieder für die Opfer des Völkermords
Jerewan gedenkt des 80. Jahrestags der Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich / Die Erinnerung an das grausame Morden ist heute konstitutives Element des jungen Staates ■ Aus Jerewan Jürgen Gottschlich
Die Schlange ist endlos. Bereits einige Kilometer vor der Parkanlage, in der sich das Mahnmal für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern befindet, gleichen die Straßen einem Aufmarschplatz. Es scheint, als sei halb Jerewan unterwegs, um an diesem 80. Jahrestag des Beginns der Vernichtung der armenischen Bevölkerung im damaligen Osmanischen Reich den Opfern seine Referenz zu erweisen. Den Auftakt machte am Morgen die gesamte Führungselite des vor nunmehr vier Jahren beim Zerfall der Sowjetunion unabhängig gewordenen Staates Armenien.
Der Präsident Ter-Petrosjan legte gemeinsam mit dem Oberhaupt der armenischen Kirche, dem sogenannten Katholikos, den ersten Kranz am Mahnmal nieder, dann kam das versammelte diplomatische Korps, einschließlich des deutschen Geschäftsträgers in Jerewan, Heinze, gefolgt von Delegationen sämtlicher Waffengattungen und Sonderorganisationen der armenischen Armee.
Gerade am Jahrestag des Völkermordes zeigt das Land, das sich seit nunmehr sieben Jahren in einem unerklärten Krieg mit Aserbaidschan befindet, massive militärische Präsenz. Der Ort des Gedenkens wimmelt von Uniformträgern. Erst eine gute Stunde nach ihrem Präsidenten wird dann auch das gemeine Volk vorgelassen. Wie ein Strom ergießt sich die Schlange ins Innere des Mahnmals, das aussieht wie eine große Schale, die von sich beugenden Beinen eingerahmt wird. Das Symbol des Gedenkens sind Tulpen und Flieder, jede Armenierin und jeder Armenier bringt Blumen mit, die sich nach einigen Stunden bereits zu einem riesigen Berg angehäuft haben. Der Jahrestag des Völkermordes ist in Armenien von hoher politischer Bedeutung. Ähnlich wie in Israel gilt es als erste Pflicht des unabhängigen Staates, zu garantieren, daß Armenien, anders als Israel und die Juden insgesamt, immer noch darum kämpft, daß dieser erste Völkermord des so mörderischen 20. Jahrhunderts von den Nachkommen der Täter endlich eingestanden wird.
Bis heute leugnete jede türkische Regierung, daß in der Zeit von 1915 bis 1917 überhaupt ein Völkermord stattgefunden hat. Nach offizieller türkischer Darstellung handelte es sich um kriegsbedingte Deportationen einer Bevölkerungsgruppe, der die damalige türkische Führung gemeinsam mit ihren deutschen Alliierten politische Unzuverlässigkeit unterstellte. Die Armenier, so hieß es, würden mit den Russen kollaborieren und müßten deshalb aus den grenznahen Gebieten entfernt werden. Einmal abgesehen davon, daß ausnahmslos alle Armenier, Kinder, Frauen und alte Leute betroffen waren, wurden auch sämtliche Armenier aus den westlichen Bezirken des Osmanischen Reiches, einschließlich der armenischen Elite in Istanbul, verhaftet, hingerichtet oder aber zusammen mit den anderen buchstäblich in die Wüste geschickt.
Bis heute wird diese Tragödie von der Türkei, aber auch von Aserbaidschan als armenische Propaganda abgetan und ist deshalb ein Grund mehr für den erbitterten Krieg um Nagorny Karabach. Denn nicht zuletzt wegen der Haltung Aserbaidschans zum Völkermord während des Ersten Weltkriegs fürchten viele Karabach-Armenier ein neues Massaker, sollten sie tatsächlich wieder unter aserische Herrschaft kommen. Trotzdem gibt es zur Zeit einige hoffnungsvolle Anzeichen, daß zumindest der Waffenstillstand, der seit Mai letzten Jahres in Kraft ist, weiter eingehalten wird.
Die Armenier haben kein Interesse an neuen Kampfhandlungen, weil der jetzige Frontverlauf für sie optimal ist und Aserbaidschans Regierung weiß, daß jeder neuerliche Schußwechsel ihr Ölgeschäft mit mehreren westlichen Konzernen wieder in Frage stellen würde.
Seit Beginn des Waffenstillstandes hat sich aber auch die Alltagssituation in Armenien und seiner Hauptstadt wieder entscheidend verbessert, was allemal ein Grund ist, den Status quo nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Trotz der anhaltenden Blockade Armeniens durch Aserbaidschan und die Türkei gibt es wieder viel mehr Energie und Konsumgüter als vor einem Jahr. Seit die Regierung von Ter-Petrosjan nicht mehr sämtliche finanziellen Ressourcen nach Nagorny Karabach pumpt, gibt es Öl aus dem Iran, Kekse aus der Türkei, die über Georgien kommen, und Luxusgüter aus Moskau.
Trotz dieser leichten Entspannung im Alltagsleben bleibt für die meisten Armenier die Erinnerung an den Völkermord ein konstitutives Element ihres Staates. Das wird sicher auch in Zukunft so bleiben. Mehr als ein Drittel der Blumenträger am Mahnmal des Völkermords war jünger als 15 Jahre.
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