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■ Der Vordenker des Wochenend-Tickets:Im Gleisbett mit Sten Nadolny

„Die höchst- und die tiefstgelegenen Bahnhöfe in der BRD, die ältesten pensionierten Lokführer, die letzte Fahrt auf stillgelegten Bahnhöfen. Oder Rekorde: Wie oft kann man in zwei Stunden maximal umsteigen?“ Was wie die heutige Bordlektüre der Bahn AG klingt, ist viel älteren Datums. So überlegt der Romancier Sten Nadolny schon 1981 in seinem Erstling „Netzkarte“. Eine Art Vordenkerschrift im Jahre 14 vor Einführung des „Schönes-Wochenend-Tickets“. Nadolnys Held Ole Reuter läßt als notorischer Vielschreiber kaum einen der 30.000 Bahnbummelkilometer unkommentiert. In echt deutschem Tiefgang kommen ihm überall Gedanken über kuriose Bahnhofsnamen und Frauen.

Drei Jahre später wechselt Nadolny das Verkehrsmittel, bringt seinen neuen Romanhelden auf hohe See und entwickelt zugleich das Bummel-Motiv weiter. Es entsteht der Bestseller „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Noch harren Nadolnys Ideen der großen Realisierung. 1995 ist es soweit: Das „Unternehmen Zukunft“ macht aus der „Netzkarte“ und der vielverkauften „Langsamkeit“ eine flächendeckende Wirklichkeit, das 15-Mark-Ticket. Die Bahn als Kontaktmedium wird intensiviert, mangelnde Geschwindigkeit durch ein Mehr an Geselligkeit aufgewogen.

Freilich läßt der Riß zwischen Idee und Wirklichkeit nicht lange auf sich warten. Das heutige Bahnreisen geht der erotischen Momente verlustig, die Nadolnys „Netzkarte“ noch bereicherten. „Während ich mit der Bundesbahn Roulette spiele, in die Landschaft blicke und auf ein Wunder warte“ – da trifft er sie zufällig, die unscheinbare Biologielehrerin, welche von sich sagt, sie sei „so scharf wie eine Sense“. Wenig später (nach der Liaison von Schienen- und Samenstrang) ist der Romanheld – im Unterschied zu heute – fast verzweifelt: „Ich wälze ratlos das Kursbuch, denn ich bin noch lang nicht kapitelfest.“

Heute hilft die Bahn dem Langsamreisenden mit einem Computerausdruck auf die Sprünge – ins nächste Bummelzüglein. Gesteigerte Umsteigezwänge und größere Menschenmassen machen's nötig. Die wiederum bescheren dem Wochenendfahrer ein Raumgefühl, das dem Protagonisten Ole Reuter noch gänzlich unbekannt war. Sonst hätte Nadolny seinen Bestseller wohl anders betitelt: „Die Entdeckung der Ölsardine“. Gerd Michalek

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