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Möge der Herrgott sich erbarmen

Daß ein Rechtsradikaler den Bombenanschlag von Oklahoma-City begangen haben soll, stellt die gottesfürchtigen, freiheitsliebenden Bürger der Stadt vor ein schweres moralisches Problem  ■ Aus Oklahoma City Andrea Böhm

Es hätte einer der kulturellen Höhepunkte des Jahres werden sollen. Gene Waters, Jack Wessels, Charlie Cahill, Wayne Akins und sechzig weitere Autoren lesen gemeinsam aus ihren Werken – die Crème de la crème der zeitgenössischen „Cowboy-Poeten“ beim gemeinsamen Auftritt in der „National Cowboy Hall of Fame“. Und da behaupten immer noch Leute, in Oklahoma gebe es nur Ölbohrtürme und Rinderherden, aber keine Kultur. „Pure Ignoranz“, sagt Flo Mitchell, „weil keiner sich bislang für Oklahoma interessierte.“

Seit dem 19. April interessiert sich die ganze Welt für diesen Bundesstaat – genauer gesagt: für die Hauptstadt Oklahoma City, wo an jenem Mittwoch morgen vor dem „Alfred P. Murrah Building“ in der 5. Straße eine Autobombe explodierte, die über 200 Menschen tötete. Seitdem sieht es im Umkreis von mindestens zehn Häuserblocks aus wie in Beirut zu schlimmsten Zeiten des Bürgerkrieges. Flo Mitchell – eine zierlich gebaute 74jährige Urgroßmutter, die Wert auf die Feststellung legt, daß „meine braunen Haare ungefärbt und meine Zähne alle echt sind“ – ist untröstlich über den Umstand, daß ausgerechnet ihre geliebte Stadt als Tatort des schlimmsten Terroranschlags in der Geschichte der USA in die Schlagzeilen gerät. Womöglich zieht die apokalyptische Ruine des „Murrah“-Gebäudes demnächst mehr Schaulustige an als die „National Cowboy Hall of Fame“, in dem sie als ehrenamtliche Museumsführerin tätig ist.

An diesem Tag gibt sie sich deshalb alle Mühe, die traditionellen Sehenswürdigkeiten in Oklahoma City zu preisen. Da wäre die bronzene Honoratiorentafel, auf der von Indianerhäuptling Chief Joseph über Buffalo Bill bis zu Gary Cooper und Ross Perot all jene verewigt sind, die sich nach Ansicht des ehrwürdigen Auswahlgremiums der „Nationalen Cowboy-Ruhmeshalle“ um die Geschichte des US-amerikanischen Westens verdient gemacht haben. Da wäre die permanente Sonderausstellung zu Ehren John Waynes, in der Schmuckstücke aus dem Nachlaß des Schauspielers gezeigt werden: Waffen, Indianerpuppen, ein paar Bücher – und wieder Waffen. Und schließlich die Lesung der Cowboy-Poeten, die man trotz des Bombenanschlags nicht abgesagt hat – nicht zuletzt als Angebot für jene, die von der erdrückenden Präsenz der Katastrophe Ablenkung suchen.

Also stehen da im Auditorium neben massigen Cowboystatuen ältere Herren mit wettergegerbten Gesichtern, Cowboyhüten, Lederwesten, blankgeputzten Stiefeln und dicken Gürtelschnallen. Die meisten haben zehn, zwanzig Jahre Arbeit auf der Ranch hinter sich – und davon handelt auch ihre eher schlicht vorgetragene Poesie: Von der Weite des Landes, der Treue der Pferde, von Helden vergangener Zeiten, von Gottesfurcht, Freiheitsdrang und Mannhaftigkeit, wozu wie selbstverständlich der Besitz mindestens einer Schußwaffe gehört. Die Zuschauer reagieren verhaltener als sonst, aber sichtlich dankbar, daß da ein paar ihrer Idole sie in jene Welt zurückversetzen wollen, die Flo Mitchell vor dem 19. April im Brustton der Überzeugung als „heil“ bezeichnet hätte. „Mein Gott, wir haben uns hier so sicher gefühlt.“

Flo Mitchell wird in den nächsten Wochen und Monaten ihre Museumsarbeit einschränken müssen. Quasi im Nebenberuf gibt die gläubige Methodistin an ihrer Kirche seit Jahren einen Kurs über „Die Macht der Wunder“ – für Anfänger und Fortgeschrittene. Es geht „um das Wunder der Liebe, die alle einschließt, und um die Kunst des totalen Vergebens und Verzeihens“. Die Zahl der Interessenten für ihren Kurs hat sich seit dem Bombenanschlag vervielfacht.

„Totale Vergebung“ auch für Timothy McVeigh, jenen 27jährigen Kriegsveteranen, der den Anschlag verübt haben soll? Flo Mitchell schrumpft merklich ein paar Zentimeter zusammen. „Gott unterzieht mich da einer gewaltigen Prüfung. Aber mein Glaube gibt mir keine andere Möglichkeit, als auch ihm zu vergeben.“ Nach weiterer Überlegung kommt Flo Mitchell dann doch zu dem Schluß, daß Timothy McVeigh die Todesstrafe verdient hat. Möge sich dann der Herrgott mit ihm befassen.

Oklahoma ist nicht nur das selbsterklärte Herz Amerikas, sondern auch eines der Zentren des bible belts – konservativ und gottesfürchtig. In Oklahoma City gibt es 450.000 Menschen, 1.400 Ölquellen und, so möchte es scheinen, mindestens so viele Gotteshäuser für Baptisten, Methodisten, Unitarier, Episkopalier, Katholiken, Juden, Muslime, Zeugen Jehovas, Anhänger der Pfingstgemeinden und anderer Denominationen. Das soziale Leben dreht sich hier vor allem um die Kirchengemeinde, der man angehört. Folglich sind die Kirchen seit dem Bombenanschlag nicht nur logistische Zentren für Hilfsaktionen geworden, sondern auch der Ort, wo man Erklärung für das Unerklärliche sucht.

Daß der vermutliche Urheber des Bombenanschlags ein Landsmann ist, war gewissermaßen der zweite Schock, der die Bürger von Oklahoma City traf. Nicht fanatische bärtige Muslime hatten da im Herzen Amerikas zugeschlagen, sondern laut Polizeiermittlungen ein 27jähriger Golfkriegsveteran, der bis vor kurzem noch alle Eigenschaften eines all-american boy auf sich vereinte. Ein schüchterner, höflicher Junge, berichten die Lehrer der High-School in Lockport im US-Bundesstaat New York, wo McVeigh 1986 seinen Abschluß machte. Für Basketball und für Waffen habe er sich begeistert, heißt es. Ein „guter Soldat“, sagen seine ehemaligen Vorgesetzten in der US-Armee, mit denen McVeigh 1991 im Golfkrieg gedient hatte.

Doch nach seiner Entlassung aus dem Militär wandte sich dieser scheinbar so gewöhnliche junge Mann jener Szene weißer Bürgermilizen zu, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Es sind zum Teil schwerbewaffnete paramilitärische Organisationen, deren Mitglieder die typisch amerikanische Antipathie gegen Steuern und Staat – gemischt mit Machismo und Wild-West-Nostalgie – ins militante Extrem und in ein Reich wüster Verschwörungstheorien getrieben haben: Gemäß einer von vielen Versionen versucht die UNO – nach der Bundesregierung Hauptfeind Nummer zwei – die USA zu erobern und schicke zu diesem Zwecke die US-Armee und Gangs aus Los Angeles aus, um „rechtschaffene Bürger“ zu entwaffnen. Gerade wenn es um das Thema Waffenbesitz geht, reichen ideologische Bande weit in Organisationen hinein, die man in den USA zum politischen Mainstream zählen muß: Allen voran die „National Rifle Association“, die mächtige Lobbygruppe der Waffenbesitzer und -hersteller.

Die Dreifaltigkeit von „God, Guns and Guts“ – Gott, Gewehr und Schneid – ist auch in Oklahoma City tief verwurzelt. Im Jagdsportgeschäft „Outdoor America“ herrscht ungeachtet der hitzigen Debatte über den Zusammenhang zwischen den Attentätern, den Bürgermilizen und deren Waffenfetischismus Hochbetrieb. Gewehre, Munitionskisten, Revolver und Pistolen gehen über den Ladentisch – und keiner der Kunden oder Angestellten zeigt auch nur die leiseste Sympathie für das jüngst von Clinton unterzeichnete Verbot mehrerer Typen von semi- automatischen Waffen. „Hey“, sagt ein für die Umstände ungewöhnlich fröhlicher Verkäufer, „wir sind hier in Redneck-Land. Hier hat jeder seine Knarre. Ich habe zu Hause acht Schußwaffen.“ Dann hält er inne und überlegt. „Nein – neun.“ Die würde er jetzt liebend gerne an Timothy McVeigh ausprobieren. Den Drang, McVeigh kurzen Prozeß im alten Stil zu machen, verspüren derzeit viele in Oklahoma City.

Doch nicht weit entfernt von der Hauptstadt sitzt in einem kleinen Dorf namens Eufaula die „Unorganized Citizen Militia of Oklahoma“, die sich wie ihre Vorbilder in Michigan und Montana bis an die Zähne bewaffnet hat und durch paramilitärisches Training auf den angeblichen Generalangriff der Bundesregierung vorbereitet. Zwar verurteilte ihr Führer, der im zivilen Leben Zahnprothesen herstellt, in einem Interview mit einem Reporter des Wall Street Journal den Anschlag, doch sogar die Katastrophenhilfe aus Washington für die Stadt ist in seinen Augen weiteres Indiz für den bevorstehenden Ausnahmezustand und den Beginn totalitärer Kontrolle durch Bundesbehörden.

Der lokale Sheriff – von der Miliz selbst mit dem Tode bedroht, falls er sich bei Ausbruch des erwarteten Krieges nicht auf ihre Seite stelle – sieht bislang keinen Anlaß zur Besorgnis. „Solange die mir keinen Ärger machen, beschütze ich sie wie alle anderen Bürger.“ Vor diesem Hintergrund wird zunehmend begreiflicher, warum sich so viele in Oklahoma City und anderswo immer noch wünschen, die Täter wären aus dem Ausland gekommen.

Einen Ort gibt es in Oklahoma City, an dem die Nachricht von der Verhaftung des Timothy McVeigh mit Erleichterung aufgenommen wurde – gerade weil er Amerikaner ist. In der Moschee des „Islamic Center Oklahoma City“, einer umfunktionierten Basketballhalle, hält Imam Shams Uddin Abdul Sabur jeden Freitag vor rund 500 Gläubigen – darunter gebürtigen Amerikanern, Einwanderern aus Pakistan, Malaysia, Vietnam und Ländern des Nahen Ostens – seinen Gottesdienst ab. Als in den ersten Tagen nach dem Bombenanschlag vermeintliche Terrorismus- Experten und Journalisten zum Teil verantwortungslose Spekulationen über muslimische Urheber ausbreiteten, erhielt der Imam erste Drohungen anonym am Telefon. „Ihr kriegt das, was ihr verdient habt“, hieß es da, und: „Haut ab dahin, woher ihr gekommen seid.“

Daß Menschen nach einem solch brutalen Anschlag ihre Angst und Wut schnell gegen einen Schuldigen richten wollen, könne er ja nachvollziehen, sagt der 52jährige mit einem verständnisvollen Lächeln, das eine charmante Zahnlücke entblößt. „Aber wohin soll ich bitte abhauen?“ Shams Uddin Abdul Abur ist Sprößling einer texanischen Baptistenfamilie und konvertierte mit 19 Jahren zum Entsetzen seiner Angehörigen zum Islam, weil „ich nach etwas suchte, das meinem Leben Richtung geben könnte“. Vor zwei Jahren berief ihn die islamische Gemeinde von Oklahoma City zum Imam. Seitdem predigt er jeden Freitag – und spielt anschließend mit den Kindern Basketball.

Auch wenn er es nicht so recht zugeben will – die willkürlichen Verdächtigungen gegen Muslime haben ihn zutiefst verletzt. Um so mehr, als Ärzte aus seiner Moschee zu den ersten gehörten, die den Bombenopfern Erste Hilfe leisteten. Aber vielleicht, sagt er, hat der Erfahrungsprozeß aus dieser Katastrophe schon begonnen: „Wir werden alle sehr viel enger zusammenrücken müssen in diesen Zeiten – egal ob Muslim und Nichtmuslim.“ Vermutlich ahnt er, daß der Stadt die schwierigsten Zeiten noch bevorstehen. Dann, wenn der O.-J.-Simpson-Prozeß wieder die Schlagzeilen der USA beherrscht und die Bürger von Oklahoma City mit ihrem Alptraum allein fertig werden müssen.

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