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SanssouciVorschlag

■ "Die gibt's noch?" Carmel singt im Konzertsaal der HdK

„Carmel?! – Was, die gibt's noch? Das muß ein Vorschlag werden, die kennt doch niemand mehr“, meinte der Musikredakteur. Sollte sich die taz-Leserschaft tatsächlich derart verjüngt haben? Sollte sich außer mir niemand mehr an den treibenden Rhythmus und an die schrille Stimme erinnern, mit der Carmel McCourt „More, More, More“ gesungen hat? Ein Lied, das nach Unbescheidenheit, Aufbruch und Ekstase schrie. Vor zehn Jahren war das ein Hit. Nicht der einzige.

Dabei war Carmel McCourt immer eine, die sich auch im „bescheidener sein“ geübt hat, wurde sie doch während ihrer zwölfjährigen künstlerischen Arbeit nicht immer hofiert – was durchaus für jemanden sprechen kann. Nicht nur in Berlin, auch in England, ihrer eigentlichen Heimat, ist man ihr und ihrer Band nicht mit offenen Armen entgegengerannt. Dagegen hat Frankreich der Sängerin immer schon mehr Raum gegeben. Ihre Songs sind eben auch Chansons. Bei Carmel ist es der Gesang, der Unangepaßtheit einfordert. Je mainstreamiger ihre Hits im jazzigen Popstil – und umgekehrt – arrangiert sind, um so eigensinniger setzt sie ihre manchmal unrein und manchmal ganz klar klingende Stimme ein. Eklektisch wird ihr Stil genannt, was eigentlich unoriginell und aus Vorhandenem zusammengefügt heißt, auf sie bezogen aber wie ein großes Kompliment wirkt. Wahrscheinlich ist es die unverwüstliche Treue zu sich selbst, die Carmel dauerhaften Ruhm versagt, scheint sie doch weder musikalisch noch von dem, was sie durch ihre Texte rüberbringt, kompromittierbar. Sie singt engagierte Statements gegen die Anmaßungen unserer zerstörerischen Zivilisation, gegen blinden Egoismus, und sie singt über das Thema aller Themen, die Liebe – und zwar die, die durchhält und nicht aufgibt. Treu ist sie auch dem Bassisten Jim Paris und dem Schlagzeuger Gerry Darby, mit denen sie seit Anfang der achtziger Jahre zusammenarbeitet.

Heute steht „More, More, More“ im Kontrast zu „It's a shame, we're all to blame“. Der Satz taucht in verschiedenen Variationen im Titelsong der neuen CD „World's Gone Crazy“ auf. Das kratzig gesungene Lied macht es einem leicht zu glauben, daß Carmel das „Wir“ ernst meint, daß die eingeforderte Verantwortung nicht nur eine dahingesungene ist. Kompromißloses Begehren trifft zwölf Jahre später auf ein Nachdenken über die Grenzen des Individuums. Schon alleine an dieser Entwicklung müßte sich die taz-Leserschaft – im wesentlichen doch die „verlorene Generation“ – wiedererkennen. Es sei denn, sie ist tatsächlich um soviel jünger geworden. Waltraud Schwab

Heute um 20 Uhr im Konzertsaal der Hochschule der Künste, Fasanenstraße 1, Charlottenburg.

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