Kein übler Drückeberger

■ Hingerichtet wegen „Zersetzung der Wehrkraft“: Dokumentation eines Berliner Urteils von 1944 gegen einen 22jährigen Soldaten, der sich eines „Verbrechens“ schuldig machte

Im Jahr 1944 wurde der 22jährige Fritz Keller wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Eigentlich wollte er nur nicht in den Krieg. Er konnte sich in den Jahren 1941 und 1943 mehrere Monate durch Fahrten mit der Bahn quer durch Europa den Straf- und „Marschbefehlen“ entziehen. Der Deserteur wurde 1944 verhaftet und angeklagt. Ankläger im Prozeß war der kürzlich zurückgetretene Vorsitzende des Berliner Roten Kreuzes, Schlegelberger. Das Urteil gegen Fritz Keller wurde im Sommer 1944 vollstreckt. Die taz dokumentiert die Urteilsbegründung.

Gründe:

Der Angeklagte ist am 18. 9. 1922 in Chemnitz geboren. Als Zivilberuf gibt er abwechselnd Hausdiener, Mechaniker und Postfacharbeiter an. Er trat am 4. 6. 1940 in die Marine ein und wurde am 1. 3. 1941 zum M.A. Gefr. ernannt. Disziplinär ist er 4 Mal vorbestraft und zwar wegen eigenmächtiger Entfernung von der Truppe um 4 Stunden, Trunkenheit und Nichtausführung eines Befehls und unrichtiger dienstlicher Meldung. Gerichtlich ist er mit 5 Jahren Gefängnis und Rangverlust bestraft wegen unerlaubter Entfernung im Felde in mehreren Fällen, wegen Urkundenfälschung, Betrugs, unbefugten Ordentragens, falscher Meldung und unbefugten Tragens einer Uniform.

Die Strafe aus diesem Feldurteil des Gerichts 2. A.d.O. vom 20. 5. 42 verbüßte der Angeklagte zunächst in Torgau und dann in einem Straflager in Annendorf bei Halle. Von dort aus wurde er, wie er angibt, auf Grund seiner guten Führung der 17. Feldgefangenenstrafabteilung überwiesen, die damals in der Nähe von Esjum lag. Der Angeklagte gibt an, er sei etwa im Februar 1943 zur 17. Feldstrafgefangenenabteilung gekommen und dort im Stellungsbau vor dem Feind und als Kabelleger in der HKL eingesetzt worden.

Dem Angeklagten wird zeitweise Wehrdienstentziehung, fortgesetzte Urkundenfälschung, fortgesetzter Betrug sowie das unbefugte Tragen einer Maatenuniform und verschiedener Orden- und Ehrenzeichen zur Last gelegt. [...]

Der Angeklagte hatte nach seiner Angabe im Mai 1943 als Feldstrafgefangener im Osten durch den Luftdruck einer Granate einen Lungenriß erlitten und wurde in das Lazarett in Bernogakow eingeliefert. Er verblieb dort 5 Tage. Durch Fliegerangriffe wurden, wie er angibt, die Papiere der Lazarettinsassen vernichtet. Der Angeklagte verschwieg, Strafgefangener zu sein und gab lediglich die Feldpostnummer der 17. Feldstrafgefangenenabteilung als seine Einheit an. Ihm wurde daraufhin ein vorläufiger Ausweis ausgestellt. Nach einem Lazarettaufenthalt in Dnjepropetrowsk wurde er etwa Mitte Juni 1943 nach Kiel zur 1. S.St.A. in Marsch gesetzt. In Kiel verstand er es, den Wachtmeister bei der 1. S.St.A. in dem Glauben zu belassen, daß er Bewährungsfrist für den Rest seiner Strafe bekommen habe.

Er erhielt daher einen Erholungsurlaub vom 14. 6. bis 5. 7. 1943 nach Chemnitz. In dem Soldbuch, welches bei der Vernichtung der Akten verbrannt ist, war eine Fälschung über die Daten dieses Urlaubs vorgenommen und zwar eine Eins vor die Fünf gesetzt, so daß der Eindruck entstand, der Angeklagte habe Urlaub bis zum 15. 7. 1943 erhalten. Er bestreitet, diese Fälschung vorgenommen zu haben und will nicht wissen, von wem sie herrührt. Am 8. 7. 1943 wurde er nach Nikolajew in Marsch gesetzt. Er änderte das Reise- und Ausstellungsdatum auf Marschbefehl und Fahrschein in 17. 7. 1943 ab, und zwar benutzte er dazu eine Schreibmaschine auf dem Hauptpostamt in Chemnitz. Die Fälschung hatte er ausgeführt, um einen Umweg über Chemnitz zu machen und sich dort einige Zeit aufhalten zu können. Von Chemnitz aus fuhr er bis Gomel und von dortaus bis Kowel. In Kowel suchte er 4 Tage die Krankensammelstelle auf, da er angeblich an Fieber und Erbrechen litt. Nach seiner Angabe ist er dann weiter über Kiew und Ostrow nach Gomel gefahren und hat sich dort auf der Frontleitstelle gemeldet. Die Umwege sollen durch Sprengungen der Bahnstrecken und Umleitungen notwendig gewesen sein.

Da der Angeklagte auf der Frontleitstelle in Gomel sich als freier Soldat ausgab und seine Eigenschaft als Strafgefangener verschwieg, wurde er nach Neustrelitz zum Ersatztruppenteil in Marsch gesetzt. Bereits vor diesem Zeitpunkt hatte der Angeklagte 14 Tage im Lazarett in Kowel gelegen. Der Zeitpunkt dieses Lazarettaufenthaltes konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, da der Angeklagte hierüber keine Angaben machen konnte oder wollte. Bei diesem Lazarettaufenthalt gab der Angeklagte sich als Maat aus. Er nähte sich selbst die Maatenabzeichen an die Uniform und verfälschte auch sein Soldbuch dementsprechend. In Neustrelitz wurde ihm daher von der 2. Ausbildungsstammkompagnie ein auf den MA.Mt. Keller von der 1. A.St.K. Neustrelitz lautender Marschbefehl ausgestellt, nach welchem er am 18. 8. nach Orel zur Feldpostnummer 30060 D in Marsch gesetzt wurde. Er begann diese Reise am 18. 8. und unterbrach sie für 2 Tage in Berlin. Er fuhr dann über Orel nach Gomel, wo er am 6. 9. 1943 eintraf. Dort begab er sich wieder für einige Zeit ins Lazarett. Er fälschte das Ausstellungsdatum in seinem Soldbuch in den 17. 9. 1943 und stellte sich auch selbst einen gefälschten Marschbefehl aus. Nachdem er angeblich sein Ziel Nikolajew erreicht hatte, wurde er wieder zurückgeschickt und zwar nach Briansk, wo er am 14. 9. 1943 eingetroffen sein will. Er wurde wiederum von Briansk nach Neustrelitz in Marsch gesetzt. Seine Reise führt über Warschau und Breslau. Am 16. 9. 1943 wurde er von dem Bahnhofswachoffizier Breslau wegen unvorschriftsmäßiger Uniform und wegen Radierungen auf seinem Sonderausweis festgenommen und nach erfolgter Vernehmung nach Neustrelitz in Marsch gesetzt.

In Breslau hatte er ebenfalls seiner Gewohnheit gemäß am 16. 9. 1943 die Krankensammelstelle am Hauptbahnhof aufgesucht und über starke Schienbeinschmerzen geklagt. Ein krankhafter Organbefund wurde jedoch nicht festgestellt, auch war die Temperatur normal. Den Überweisungsschein der Krankensammelstelle fälschte er durch den Zusatz: „marschfähig am 16. 9. 1943“. Er fuhr von Breslau nach Leipzig, nachdem er seinen Marschbefehl durch den Zusatz „über Leipzig“ verfälscht hatte. In Leipzig hielt er sich 2 Tage unberechtigt auf. Nach einem Lazarettaufenthalt von 5 Tagen wurde er am 5. 10. 1943 in Berlin in dem Lokal „Hamburg ahoi“ von einer Offizierstreife kontrolliert und wegen Verdachts des unberechtigten Tragens von Orden- und Ehrenzeichen dem Vernehmungsoffizier vorgeführt. Nach anfänglich hartnäckigem Leugnen gestand er ein, seit 14 Tagen unberechtigt das EK I, EK II, das Band zur Ostmedaille, die Schützenschnur und das Infanteriesturmabzeichen getragen sowie zahlreiche Urkundenfälschungen in seinen Soldbüchern und auf seinen Marschpapieren vorgenommen sowie sich als Maat ausgegeben zu haben. Auch gab er zu, daß er verschiedentlich Wehrsold als Maat unberechtigt empfangen hatte. Insoweit wiederholte der Angeklagte sein Geständnis in der Hauptverhandlung. Er bestreitet dagegen, daß er die Absicht gehabt habe, sich zeitweise dem Wehrdienst zu entziehen. Er gab an, daß er sich stets bei den Kommandos und Frontleitstellen gemeldet habe und daß sein ständiges Hin- und Herreisen nur die Ausführung von Befehlen dargestellt habe. Er habe auch immer die Feldpostnummer der Feldstrafgefangenenabteilung angegeben und sich bemüht, zu dieser zurückzugelangen. Lediglich die unruhigen Verhältnisse an der Ostfront seien daran schuld gewesen, daß er die Feldstrafgefangenenabteilung nicht wieder erreicht habe. Seine Lazarettaufenthalte seien durch seine Krankheit bedingt.

Demgegenüber ist das Gericht zu der Überzeugung gekommen, daß der Angeklagte den Vorsatz gehabt hat, sich solange wie möglich dem Dienst in der Feldstrafgefangenenabteilung zu entziehen und jede Gelegenheit zu benutzen, um die Zeit der Abwesenheit von seiner Trupppe zu verlängern. Das Gericht schließt dies in erster Linie aus dem Vorverfahren, in welchem der Angeklagte wegen genau der gleichen Delikte zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Auch damals ist er von Lazarett zu Lazarett gewandert und hat, um dies zu erreichen und um seine unerlaubten Entfernungen zu verdecken, zahlreiche Urkundenfälschungen begangen. Er war damals aus dem Luftwaffenlazarett Bukarest am 27. 10. 1941 nach Kiel in Marsch gesetzt worden. Er unterbrach unerlaubt die Reise in Dresden und fuhr nach Chemnitz, wo er sich mehrere Tage unbefugt aufhielt. Er traf erst am 8. 11. 1941 bei seinem Ersatztruppenteil ein und erhielt dort einen Genesungsurlaub bis zum 21. 11. 1941.

Wegen eines neuen Malariaanfalls kam er bis 8. 12. 1941 ins Lazarett Malente und erhielt einen weiteren z.W.d.G.-Urlaub nach Chemnitz bis zum 19. 12. 1941. Am 22. 12. 1941 wurde er zu seiner im Südosten liegenden Einheit in Marsch gesetzt und verstand es, einen falschen Truppenteil und zwar die Hafenschutzflottille in Saloniki anzugeben, obwohl er dieser niemals angehört hatte. Auf dem Marsch nach Saloniki am 23. 12. 1941 unterbrach er unberechtigt die Reise in Leipzig und fuhr von dortaus nach Chemnitz, wo er bis zum 28. 12. 1941 blieb. Er fälschte seine Marschpapiere, fuhr am 28. 12. 1941 nach Wien und traf dort am 30. 12. 1941 ein. Den Zug nach Belgrad am 31. 12. 1941 konnte er angeblich wegen Überfüllung nicht benutzen, und er hielt sich daher in Wien auf, wo er Wehrsold abhob und angab, zur 4. U-Bootsflottille zu gehören. Statt die Reise nach Belgrad am 1. 1. 1942 fortzusetzen, fuhr er nach Graz und hielt sich dort bis zum 19. 1. 1942 auf. In Graz beging er verschiedene Straftaten. Als ihm der Aufenthalt in Graz zu gefährlich wurde, begab er sich zur dortigen Wehrkreisauskunftsstelle und log dieser vor, er habe einen Brief von der Hafenschutzflottille in Saloniki als unbestellbar zurückerhalten und wisse nun nicht, wohin er sich zu begeben habe. Er ereichte durch diese falsche Meldung, daß ihm von der Wehrkreisauskunftsstelle in Graz ein Marschbefehl zu seinem Ersatztruppenteil nach Kiel ausgestellt wurde. Reisetag war der 19. 1. 1942. Der Angeklagte fuhr damals nicht nach Kiel, sondern nach Chemnitz und trieb sich dort bis zum 24. 1. 1942 herum. Er hatte versucht, sich einen falschen Stempel der 2. Hafenschutzflottille in einer Stempelfabrik in Chemnitz anfertigen zu lassen. Da der Inhaber Verdacht schöpfte, wurde er am 24. 1. 1942 verhaftet. Auch damals trug der Angeklagte während seiner Straftaten die Maatenuniform. Die damaligen Straftaten des Angeklagten zeigen also, daß er die Drückebergerei in der Heimat zu einem System entwickelt hat. Der Vorsatz des Angeklagten, sich solange wie möglich von seinem Truppenteil fernzuhalten, ergibt sich aber auch daraus, daß er seine Eigenschaft als Feldstrafgefangener allen Dienststellen gegenüber verschwieg und sich durch das Tragen der Maatenuniform tarnte. Der Angeklagte war sich darüber im klaren, daß er durch diese Täuschungsmittel die Rückkehr zur Feldstrafgefangenenabteilung erschwerte, wenn nicht gar verhinderte. Auch seine zahlreichen Urkundenfälschungen dienten zu diesem Zweck. Besonders bezeichnend ist auch der Überweisungsschein der Krankensammelstelle in Breslau vom 16. 9. 1943, aus dem sich ergibt, daß der Angeklagte gesund war. Die Radierungen auf der Rückseite dieses Scheins und der Zusatz des Angeklagten „marschfähig am 16. 9. 1943“ zeigt, daß der Angeklagte hier Täuschungsmanöver hinsichtlich seines Gesundheitszustandes vorgenommen hat. Da der Angeklagte ein ziemlich großer und kräftig gebauter Mann ist, der während der mehrmonatigen Untersuchungshaft nie krank war, ist das Gericht der Überzeugung, daß auch seine früheren Lazarettaufenthalte zum mindesten zum Teil durch schwindelhafte Manöver zustande kamen. Auch die Tatsache, daß der Angeklagte sich in Berlin ins Lazarett begab und auf der anderen Seite Verabredungen mit seiner Braut Greti Gellert einging und sich in dem Lokal „Hamburg ahoi“ herumtrieb, zeigt, daß er gar nicht ernsthaft krank war. Dem Angeklagten konnte aber nicht widerlegt werden, daß er im Osten einen Lungenriß erlitten hat und daß auch gelegentliche Lazarettaufenthalte durch Malaria bedingt waren. Dennoch war er ein übler Drückeberger.

Das Gericht hat die Urkundenfälschungen und Betrügereien sowie das Tragen der Maatenuniform und der Kriegsauszeichnungen entsprechend der Anklage nicht als selbständige Handlungen angesehen, sondern als Teile des Gesamtplanes des Angeklagten. Diese strafbaren Handlungen waren das Mittel des Angeklagten, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Der Angeklagte mußte daher wegen zeitweiser Wehrdienstentziehung in Tateinheit mit fortgesetzer Urkundenfälschung und fortgesetztem Betrug (Maaten- Wehrsold) sowie in Tateinheit mit dem unbefugten Tragen inländischer Uniform und inländischer Orden gemäß § 263, 267, 132a, 73 RStGB § 6 I b des Gesetzes über Titel, Orden und Ehrenzeichen vom 7. 1. 1937 bestraft werden.

Auf Wehrkraftzersetzung steht in erster Linie die Todesstrafe. Nur in minderschweren Fällen kann auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden. Die Tat des Angeklagten kann aus folgenden Gründen nicht als minder schwer angesehen werden:

Der Angeklagte ist nach seinem Vorleben als ein Schädling innerhalb der Wehrmacht anzusehen. Mildernde Umstände lassen sich in seiner Person nicht finden, da auch seine Führungen in letzter Zeit nur als genügend angesehen wurden. Die Tat als solche ist aber so schwer, daß sie nur mit dem Tod gesühnt werden kann. Der Angeklagte ist nicht anders anzusehen als ein Fahnenflüchtiger, da er es verstanden hat, sich länger als 3 Monate durch täuschende Mittel von seiner Einheit fernzuhalten. Ein Soldat, der angesichts des schweren Abwehrkampfes der Ostfront seine Fahne und seine Kameraden in dieser Weise im Stich läßt, hat sein Leben verwirkt. Zudem zeigen die skrupellosen Straftaten des Angeklagten, die in einer derartigen Fülle selten zur Aburteilung vor die Kriegsgerichte gelangen, daß der Angeklagte von Grund auf kriminell veranlagt und nicht zu bessern ist. Die erste Verurteilung hat auf ihn keinerlei Eindruck gemacht. Bei dieser Sachlage mußte das Gericht auf Todesstrafe erkennen. Gemäß § 31 MStGB wurde auf Verlust der Wehrwürdigkeit erkannt. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden aberkannt.

Urteil: Der Angeklagte wird wegen Zersetzung der Wehrkraft, begangen durch monatelange Wehrdienstentziehung unter fortgesetzter täuschender Mittel in Tateinheit mit fortgesetzter Urkundenfälschung, fortgesetztem unberechtigten Tragen der Maatenuniform sowie verschiedener Orden und Ehrenzeichen und fortgesetztem Betrug zum Tode verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden auf Lebenszeit aberkannt. Er wird für wehrunwürdig erklärt.