Plansoll Statistik erfüllt

Rußlands offizielle Wirtschaftsdaten geben die Wirklichkeit nicht wieder / Investoren zögern, Kapitalflucht ins Ausland hält an  ■ Aus Moskau Klaus Helge Donath

Dreißig bis vierzig Prozent der Bevölkerung leben unter dem Existenzminimum. Diese Nachricht verbreitete das russische Zentrum für Lebensstandard, eine Unterabteilung des Arbeitsministeriums. Solche Hiobsbotschaften tauchen periodisch immer wieder auf. Eigentlich sollten Statistiker wissen, wovon sie reden. Gewöhnlich zeigt sich Massenelend im Stadtbild der Großstädte. Selbst dem autoritärsten Staat gelingt es nicht, Armut hinter Palisaden zu verbergen. In russischen Städten sind die Bettler mehr geworden, doch einem Vergleich mit westeuropäischen Großstädten halten sie nicht stand. Im Gegenteil, die vormals leeren und grauen Straßenfluchten sind bunt.

Laut offizieller Statistik starb im Februar 1993 kein einziger Russe, zumindest nicht auf dem Territorium der Föderation. Man kann daraus zweierlei ableiten: Die Lebensbedingungen haben sich kolossal verbessert, oder die Statistik beachtet grundlegende Gesetze der Datenerfassung nicht.

Letzteres trifft auf jeden Fall zu. Wenn Wirtschaftsstatistiken etwas genauer erfassen, dann den staatlichen Sektor. Doch 16.000 mittlere und große Unternehmen sind privatisiert. Verzerrend kommt hinzu, daß Staatsdirektoren nach Subventionen schielen, die sie zu gewissen Korrekturen nötigen. Der Privatsektor produzierte im letzten Jahr beinahe zwei Drittel des offiziellen Bruttosozialprodukts. Die privatisierten Bereiche versuchen, sich einer genauen Überprüfung zu entziehen. Täten sie es nicht, würde ihnen die Steuerschraube schnell den Garaus machen. Produktionsziffern sind noch weniger verläßlich. Gab man früher mehr zu Buche, um den Plan zu erfüllen, streicht man heute zusammen, um Gewinne zu verstecken. Nach inoffiziellen Schätzungen leben an die 60 Prozent Russen mittlerweile von einem Zweitlohn. Sie beziehen staatliche Löhne und verlassen ihre Arbeitsstätten nicht, um den Anspruch auf Sozialleistungen nicht zu verlieren. Richtiges Geld verdienen sie mit ihrer Nebentätigkeit. Natürlich bewahren sie darüber Schweigen. Immerhin gehen über zwölf Prozent des Bruttosozialprodukts in den Sozialbereich.

Das Pensionsalter wird sehr liberal ausgelegt aus. Mit 50 gehen Frauen meist in die Rente, Männer mit 55 oder 60. Dann suchen sie sich einen neuen Job. Angaben zu Mindestrenten führen daher in die Irre. Verläßlicherer Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bleibt allein das Kaufverhalten. Nach der der Preisliberalisierung 1991 sank Einzelhandelsvolumen zurück, 1994 hat den Umfang des Jahres 1989 wieder überstiegen. Die realen Haushaltseinkommen entwickeln sich nach dem gleichen Muster. In Moskau wurden 1994 allein um die halbe Million neue Pkw angemeldet. Das Geld muß verdient sein – in solchen Dimension läßt sich auf kriminelle Weise nichts umverteilen.

Der Produktionsrückgang wurde offiziell mit 50 Prozent beklagt, und ein Ende sei nicht abzusehen. Massenstreiks müßten eigentlich die Folge sein. Tatsächlich sind lediglich zwei der 70 Millionen Arbeitnehmer arbeitslos. Auch der Energieverbrauch stützt die These, daß die Produktionsangaben einfach gefälscht sein müssen: In fünf Jahren fiel er lediglich um ein Fünftel.

Je nach Wirtschaftszweig und Region ergeben sich differenziertere Bilder: Krisenregionen wie die Kohlegebiete Kusbass und Workuta stehen kurz vor dem Kollaps. Angespannt ist es auch im fernöstlichen Wladiwostok und in Petersburg, wo vornehmlich Rüstungsindustrien untergebracht sind. Überdurchschnittlich hoch ist die Arbeitslosigkeit auch in der traditionellen Textilindustrie Iwanowos. Die meisten Fabriken müßten ihre Produktionspaletten drastisch verändern, mutmaßte die Weltbank. Das scheitert nicht allein an der Unfähigkeit des alten Managements, sondern zunehmend an mangelnden Kreditgebern. Rußlands Kapital ist immer noch auf der Flucht. Mindestens 50 Milliarden US-Dollar liegen auf ausländischen Banken. Unklare Gesetzgebung, Drohungen anstehender Renationalisierung von Großunternehmen und politisches Vabanque-Spiel wie im Tschetschenienkrieg schrecken Anleger ab. Die Auswirkungen des Krieges lassen sich noch nicht absehen. Mit Sicherheit wird man die angepeilte Verringerung des Haushaltes von knapp zwölf auf acht Prozent Defizit 1995 nicht einhalten können. Nur wenige ausländische Investoren blieben mutig dabei.

Der Kapitalbedarf ist dagegen immens. Nur ein Zusammenspiel heimischer Sparer, rückgeführten Kapitals und ausländischer Investitionen könnten den Bedarf decken. Ein Bankensystem zeigt erste Konturen, nur erweist es sich als wesentlich profitabler, Geld im Wechsel- und Spekulationsgeschäft zu verdienen als mit riskanten Unternehmenskrediten.