Venus muß bluten

■ Die Künstlerin als Kunstgeschöpf: Die Performerin Orlan setzte dem Bremer Puplikum die Subjekt/Objekt-Debatte am eigenen Leib auseinander

Sie riskiert Kopf und Körper für ihre Kunst. Orlan, französische Performance-Künstlerin mit Weltruf, arbeitet am eigenen Leib mit einer Radikalität, die kaum zu überbieten ist. Bob Lens, selbst Künstler mit besten Verbindungen zu jenen, die in der Gegenwartskunst Rang und Namen besitzen, gelang das kleine Wunder, die Ausnahmekünstlerin nach Bremen zu holen. Ihr spektakulärer Auftritt beschloß am Wochenende den zweiten Teil der Ausstellungstrilogie „Spiegel – Haut – Essen“, die Lens derzeit in der Galerie Hertz organisiert. So war das verträumte Dorf an der Weser für einen Abend ein bißchen Kunstmetropole auf Höhe der Zeit.

Allein schon Orlans Video, das sie dem geneigten Galeriepublikum vorführte, ging im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut. Und zwar unter ihre eigene. Diese läßt sie seit Jahren von den Skalpellen der plastischen Chirurgie zerfleischen; Ziel: ihr Gesicht soll einer „unendlichen Metamorphose“ unterzogen werden, nach Vorbildern aus Kunst, Religion und griechischer Mythologie. Kinn, Wangen, Augenpartie, Mund und Stirn ließ sie sich mittlerweile zerschneiden und zu einem neuen Kunstobjekt zusammenflicken. Mona Lisa hier, Diana dort, Venus da – doch wer meint, dies sei nur eine auf die Spitze getriebene Kritik an der Schönheitschirurgie, der denkt zu kurz.

Während nämlich die Videobilder von ihrer „7. Performance-Operation“ – die sie am 21. November 93 vom New Yorker Operationssaal aus via Satellit live ausstrahlen ließ – am Rande des Brechreizes entlangschrappten, hielt Orlan einen ausgedehnten Vortrag. Hinter ihren „Interventionen“ genannten Gesichtszerschnippelungen steht nämlich eine geballte Ladung philosophisch-psychoanalytischer Theorie. Diese ist weitgehend ein sehr wörtlich genommener Poststrukturalismus, eine direkte Anwendung der dekonstruktivistischen Ansätze a la Lacan, Deleuze/Guattari und Serres. „Ich ist ein Anderer!“ verkündete sie im Sinne Lacans, während in einem Artaud'schen (Video-)-Theater der Grausamkeit das Blut aus ihren Lippen troff und das Skalpell ihre Haut vom Ohr bis zum Hals hinunter löste, um ihrem Ich/Nicht-Ich zu einem neuen Selbstbild zu verhelfen.

Der Skandal, den man beim Anblick solcher Selbstzerstückelung empfindet, beruht auf Orlans Kampf gegen die Natur des Körpers, den die Künstlerin als konstitutiven Teil des Subjekts negiert und zu einem bloßen Objekt erklärt: „Die Haut ist enttäuschend, ich habe niemals die Haut dessen, was ich bin.“

Wen wundert's daß viele Feministinnen in einem solchen Sich-selbst-zum-Objekt-machen einen Verrat an ihrer Sache sehen. Orlan aber empfindet sich selbst als kritische Feministin und hält dagegen: „Psychoanalyse und Religion tun sich zusammen, um uns einzureden, daß wir den Körper nicht angreifen dürfen. Dabei tun wir es ja ständig. Nicht nur mit plastischer Chirurgie und demnächst mit Gentechnik, sondern im Prinzip schon mit der Einnahme von Antibiotika und mit jedem chirurgischen Eingriff.“ Diese Schizophrenie will sie mit ihrer blasphemischen Arbeit verdeutlichen. Deshalb macht sie ihren Körper zu einem öffentlichen Ort der Debatte, auf dem die Fragen über das Statut des Leibes in unserer Epoche abgehandelt werden.

Das Publikum in der überfüllten Galerie lauschte der fast zweistündigen Radikalkur für Ohren und Augen trotz aller Ekelgefühle andächtig. Plötzlich ging es hier ganz real um die eigene Haut, die von der zugehörigen Ausstellung nur auf symbolischer und imaginärer Ebene thematisiert wurde. Deren über einhundert Exponate freilich waren teilweise nicht minder interessant. Von Orlans blutgetränkten Gaze-Verbänden aus ihren Operationen über Joäl Hubauts Kaninchenhaut-Objekt, diverse „Pflanzenhäute“ und „Hautkleider“ bis zu Susanne Schossigs „Gefühlsmaschine“ aus drei penisartigen Objekten, unter denen ein Schild ausdrücklich zur Berührung aufforderte: Auch hier schwelgte man im schönen Traum vom organlosen Körper.

Wobei der besondere Reiz der Ausstellung sich ihrer Heterogenität verdankte. Und die gehört erklärtermaßen zum Konzept von Bob Lens. Als Ausstellungsmacher verzichtet er auf jede Vorbesichtigung, will gar nicht wissen, welche Exponate die Teilnehmerinnen und Teilnehmer präsentieren wollen. Denn die heute allerorts geübte Praxis, sich als Kurator mit seinem Konzept in einer Selbstüberhöhung zum eigentlichen Künstler zu erklären, hält er für mehr als kritikwürdig.

Nach alledem darf man nun gespannt sein, was der letzte Teil der Ausstellungsreihe - diesmal zum Thema „Essen“ - auf den Tisch bringen wird. Konkretes weiß Bob Lens naturgemäß noch nicht zu sagen. Fest steht schon mal, daß nach der blutigen Kost dieses Wochenendes am 12. Mai ein „Essenssonntag“ auf dem Plan steht.

Moritz Wecker

„Spiegel – Haut – Essen“, Galerie Cornelius Hertz, Richard-Wagner-Str. 22. Eröffnung des letzten Teils am 12.5. um 20 Uhr