Berliner Tagebuch
: Weiße und rote Binden

■ Berlin vor der Befreiung: 2. Mai 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Am Morgen des 2. Mai fuhr eine Kolonne von Personenwagen aus Bruchmühle über Kaulsdorf, Biesdorf und Friedrichsfelde in das Stadtzentrum Berlins. Darin saßen die Mitglieder der „Gruppe Ulbricht“ und einige sowjetische Politoffiziere.

Langsam bahnten sich unsere Wagen den Weg durch Friedrichsfelde in Richtung Lichtenberg. Es war ein infernalisches Bild. Brände, Trümmer, umherirrende hungrige Menschen in zerfetzten Kleidern. Ratlose deutsche Soldaten, die nicht mehr zu begreifen schienen, was vor sich ging. Singende, jubelnde und oft auch betrunkene Rotarmisten. Gruppen von Frauen, die unter Aufsicht von Rotarmisten Aufräumungsarbeiten leisteten. Lange Reihen von Menschen, die geduldig vor Pumpen standen, um einen Eimer Wasser zu erhalten. Alle sahen schrecklich müde, hungrig, abgespannt und zerfetzt aus. Es war ein sehr starker Kontrast zu dem, was ich in den kleineren Ortschaften östlich Berlins gesehen hatte. Viele Menschen trugen weiße Armbinden als Zeichen der Kapitulation oder rote als Begrüßung für die Rote Armee. Es gab auch einige, die besonders vorsichtig waren: Sie hatten am Arm sowohl eine weiße als auch eine rote Binde.

Unsere Begleitoffiziere wiesen uns den Weg zur Kommandantur von Lichtenberg, die sich in den ersten Tagen in einem Mietshaus befand. Eine kurze Begrüßung. Der Kommandant hatte alle Hände voll zu tun. Offiziere kamen und gingen und berichteten kurz und knapp, im Telegrammstil, was sich im Bezirk abspielte. Als wir ins Zimmer traten, war da gerade ein sowjetischer Offizier, der wütend und empört über das Benehmen sowjetischer Soldaten schimpfte. Wolfgang Leonhardt

Zitiert aus: Wolfgang Leonhardt, „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, 1961. Wolfgang Leonhard (geb. 1921), Schriftsteller, 1933 Emigration in die Sowjetunion, 1945 Rückkehr mit der „Gruppe Ulbricht“, seit 1949 als Publizist tätig.

Recherche: Jürgen Karwelat