Die unaufhaltsame Latinisierung von LA

Los Angeles ist ein Flickenteppich unterschiedlichster Ethnien. Latinos sind die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Widerstand gegen die demographische Gezeitenwende kommt vor allem von den Angloamerikanern  ■ Von Andrea Böhm

Der Geburtsort der Stadt ist so unauffällig, daß die meisten achtlos daran vorbeigehen. Ein schlichtes Holzkreuz neben der alten Plaza. Elf Familien haben es hier am 4. September 1781 in den Boden gerammt und den Namen ihrer Siedlung in den Balken graviert: „El pueblo de nuestra senora la reina de los angeles – Das Dorf unserer Herrin, der Königin der Engel“. Heute sagt man kurzerhand „LA“. Mit Engeln hatte die Geschichte des „Dorfes“ ohnehin nie viel zu tun.

213 Jahre später hat sich das Zentrum der Aufmerksamkeit nur wenige Häuserblocks von der alten Plaza entfernt. Im Gerichtsgebäude der Stadt stehen Menschen Schlange, um bei den Dreharbeiten zur derzeit beliebtesten Unterhaltungsserie live dabei sein zu dürfen: dem Prozeß gegen den ehemaligen Footballstar und Filmschauspieler O.J. Simpson. Die befürchtete Zuschauerflaute in diesem Gerichtsmarathon ist ausgeblieben, da die Medien seit einigen Wochen die Simpson-Story nicht mehr nur als menschliches VIP- Drama aus dem Gerichtssaal verkaufen.

In der Jury fauchen sich angeblich weiße und schwarze Geschworene an; die Verteidiger präsentieren ihren afro-amerikanischen Mandanten als Opfer einer rassistischen Verschwörung des Los Angeles Police Department; der Richter, Sohn japanischer Einwanderer, wird aufgrund seiner Herkunft in Radio-Talkshows verspottet – der Simpson-Prozeß als multikulturelles Minenfeld in Form einer realen Soap-opera.

Das erzeugt schaurige Reminiszenzen an die Folgen des Rodney- King-Urteils 1992 – und hält die Einschaltquoten oben. Eine Vertreterin der größten Einwanderungsgruppe in LA, den Immigranten aus Süd-und Mittelamerika, kommt ganz dem Klischee entsprechend nur in Gestalt einer völlig verschüchterten, des Englischen nicht mächtigen Zeugin vor: Dienstkraft im Hause Simpson.

Keine 200 Meter weiter, im Bürogebäude des „Immigration and Naturalization Service“ (INS), stehen Menschen Schlange, die ihren Antrag auf Einbürgerung einreichen wollen. Ihre Zahl ist von täglich rund 700 Anträgen im November letzten Jahres auf 2.500 gestiegen. In den Warteräumen sitzen koreanische, philippinische, iranische, chinesische, vietnamesische, guatemaltekische, kubanische, laotische, kolumbianische, russische, irische, polnische, salvadorianische oder jamaikanische Immigranten – und immer mehr Mexikaner, Angehörige der größten Einwanderergruppe in Los Angeles.

Sie haben sich bislang am hartnäckigsten gegen die Annahme der US-Staatsbürgerschaft gewehrt. Aus Loyalität zu ihrem Geburtsland, aus Angst, Grundbesitz in Mexiko zu verlieren, und aus Scheu vor dem englischen Sprachtest, den der INS verlangt. Doch seit im November eine Mehrheit der kalifornischen Wähler in einer Volkabstimmung für „Proposition 187“ gestimmt haben, rennen auch die Mexikaner dem INS die Türen ein. „Proposition 187“ – derzeit durch einen Gerichtsbeschluß auf Eis gelegt – verlangt die Einstellung fast aller sozialen Dienstleistungen an illegale Immigranten in Kalifornien, betrifft also keinen der Antragsteller im INS-Gebäude, die zur Erlangung der US- Staatsbürgerschaft mindestens fünf Jahre legalen Aufenthalt nachweisen müssen. Doch die einwanderungsfeindliche Welle, auf deren Schaumkrone längst auch der US-Kongreß reitet und Sozialleistungen für legale Immigranten streichen will, hat gerade der Community der Latinos in Südkalifornien den Schrecken in die Glieder fahren lassen – und sie zum Ansturm auf die INS-Büros veranlaßt. Was als Maßnahme der Ausgrenzung gedacht war, hat – auf perverse Art – zur Integration geführt. Geht die Einbürgerung in diesem Tempo weiter, dann wird die Zahl der wahlberechtigten Latinos in den nächsten fünf Jahren allein in Los Angeles um eine weitere Million wachsen – eine politische Anpassung an eine soziale Realität der Stadt, in der sie (wieder) die Mehrheit stellen. Nur ist aus dem „Dorf“, in dem angeblich die Königin der Engel residiert, längst eine gigantomanische Stadt geworden. Genauer gesagt: eine in sich verschmolzene Ansammlung von über 80 Stadtverwaltungen mit neun Millionen Einwohnern – zählt man die Gemeinden des Einzugsgebiets hinzu, dann sind es rund 15 Millionen Menschen.

Was noch 1970 die Stadt einer schwarzen Minderheit und einer weißen Mehrheit war, ist heute ein geographischer Flickenteppich aus „Chinatowns“, „Little Saigon“ und „Koreatown“; aus den Stadtteilen Pico-Union mit seinen überwiegend zentralamerikanischen Immigranten, Huntingdon Park mit seinen alteingessenen mexikanisch-amerikanischen Familien, den Enklaven der weißen Mittel- und Oberschicht in Simi Valley oder Beverly Hills – und South Central LA, das bis zum Gewaltausbruch von 1992 fälschlicherweise als Synonym für das schwarze Ghetto galt.

Bestimmend aber ist die Zuwanderung aus Mexiko und Zentralamerika: Nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung stellten Latinos 1990 mit 38 Prozent die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in Los Angeles County nach Anglo-Amerikanern mit 41 Prozent. Nach jüngsten Berechnungen des Demographen David Hayes Bautista, Professor an der University of California in Los Angeles (UCLA), stellen Latinos mit 44 Prozent in Los Angeles County bereits die Bevölkerungsmehrheit. Gleiches, so prognostizieren Demographen, wird sich Anfang des nächsten Jahrhunderts im Bundesstaat Kalifornien vollziehen. Der sogenannte „Hinterhof“ der USA zieht ins Vorderhaus – wenn auch in die schlechten Zimmer.

Daß South Central LA längst wieder wie in den 20er Jahren eine spanischsprachige Mehrheit hat, wurde in typischer Fixierung auf Negativereignisse erst durch das Desaster der riots im Jahre 1992 klar – und den Umstand, daß beim Plündern von Supermärkten, Sportgeschäften oder Elektronikläden nicht nur Schwarze und Weiße die Regale abräumten, sondern auch Latinos.

South Central war nach dem 2. Weltkrieg zur Heimat von Zehntausenden von Afroamerikanern aus den Südstaaten geworden, die in Los Angeles gutbezahlte Jobs im Produktionssektor fanden und sich nach einem freundlicheren Klima sehnten – in meteorologischer wie sozialer Hinsicht. Beide Träume hielten nur zwei bis drei Jahrzehnte. Dreißig Jahre später kam die nächste Gruppe von Immigranten. Billiger Wohnraum und nach mexikanischen Maßstäben lukrative Billiglohnjobs – vor allem als Erntearbeiter oder Dienstkräfte für weiße Haushalte – lockten in den 70er Jahren Einwanderer aus Mexiko an. In den 80ern folgten Flüchtlinge aus El Salvador und Guatemala – Opfer jener Bürgerkriege, an denen die USA ein gerüttelt Maß an Mitschuld trugen.

Dabei ist es keine demographische Vertreibung, die da in South Central stattgefunden hat, als vielmehr eine Ablösung. Latinos ermöglichten vielen schwarzen Familien den Absprung aus einem sozialen Krisengebiet in die Suburbs, indem sie ihnen Grundstücke und Häuser abkauften, die sonst niemand haben wollte. „Afroamerikaner“, sagt Hayes Bautista, „konnten nun endlich einmal von einer Zuwanderungswelle profitieren.“

Die „Latinisierung“ Kaliforniens stößt denn auch weniger auf Widerstand von Afroamerikanern als von Angloamerikanern. „Proposition 187“ war eine Ausdrucksform einer politischen Stimmung, die sich nicht nur gegen neue Zuwanderung richtet, sondern auch gegen Antidiskriminierungspolitik

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allgemein: In Kalifornien wird derzeit unter Leitung zweier weißer Hochschullehrer für die Wahlen 1996 ein Referendum gegen jene Programme zur Förderung von Minderheiten vorbereitet, die in den USA unter dem Stichwort affirmative action zusammengefaßt sind. Dem Staat an der Westküste schreibt man in solchen Situationen gern die Rolle des politischen Avantgardisten zu. „Where California goes, there goes the nation.“ Das galt für die Steuerrevolte der weißen Mittelschicht, die hier 1978 ihren Anfang nahm; das galt für die fiskalische Kahlschlagpolitik der 80er Jahre, die Ronald Reagan zuerst als Gouverneur in Kalifornien ausprobierte, bevor er sie als Präsident landesweit umsetzte; das gilt für die xenophobischen Schwingungen, die derzeit im ganzen Land zu spüren sind. Gleichzeitig aber gibt es weithin sichtbare Pendelbewegungen in die andere Richtung. David Hayes Bautista zum Beispiel verzeichnet einerseits eine wachsende, von Politikern forcierte Xenophobie, die in den nächsten Jahren zu „expliziten Diskriminierungsmaßnahmen wie der Abschaffung der bilingualen Erziehung in den Schulen“ führen könnte. Gleichzeitig hat die Privatwirtschaft von der „Fast food“- Kette bis zum Versicherungskonzern die Immigranten längst als neuen Markt entdeckt, und bietet alles, vom Produkt über die Werbung bis zur Kundenberatung, auf Spanisch an.

Die „Latinisierung“ der Stadt ist nicht mehr rückgängig zu machen – und die Selbstverständlichkeit und Unaufhaltsamkeit, mit der dieser Prozeß vonstatten geht, läßt die Volksbegehren und die Proteste gegen chinesische Straßenschilder und spanischen Schulunterricht irgendwie hilflos und obsolet erscheinen. Zumal es ebenso viele „Angelenos“ gibt, die sich dieser demographischen Gezeitenwende relativ gelassen anpassen. Im „Estelle Van Meter Center“, einem Seniorenzentrum in South Central, lernen Rentner, vorwiegend afroamerikanische und einige angloamerikanische, zweimal die Woche Spanisch. Die 85jährige Carey Jones, die 1943 aus Mississippi nach Los Angeles gezogen war, kann mittlerweile Dialogfetzen der Soap-operas des spanischsprachigen Fernsehens verstehen, ihr Essen im salvadorianischen Restaurant bestellen – und mit ihren Nachbarn aus Mexiko parlieren. Oder, wenn es sein muß, sich über zu laute Musik und Autogehupe beschweren. Aus dem Seniorenzentrum ist dank der Zuwanderung aus dem Süden längst ein Multi-Generationen-Treff und ein von Bürgern organisiertes Dienstleistungszentrum geworden. Wenn die Alten nicht gerade Spanisch lernen, Square-dance üben, Erziehungskurse über den Umgang mit drogengefährdeten Enkelkindern belegen oder sich von einem Anwalt Verhaltensregeln gegen betrügerische Handelsvertreter einimpfen lassen – dann lernen hier junge Latino-Einwanderer Englisch, gehen zur Sozialberatung oder debattieren mit den Senioren über Maßnahmen gegen Graffiti an den Hausmauern. „Wir haben ihnen ja damals was bezahlt“, sagt Corey Jones in Anspielung auf die 15 Millionen Dollar, die Mexiko nach seiner Niederlage im amerikanisch-mexikanischen Krieg für den Verlust Kaliforniens erhalten hatte. „Aber jetzt haben sie es sich zurückgeholt.“ Was sie „ihren“ Mexikanern nicht weiter übel nimmt. Schließlich habe jeder das Recht, sich anderswo ein besseres Leben aufzubauen. Wie sie sich ihr Los Angeles in zehn Jahren vorstellt? „Ach, wenn ich dann noch lebe“, sagt sie vergnügt, „dann kann ich ganz gut Spanisch.“