: Autoboom und Stauwachstum
■ Brasiliens Städte stehen still, weil die Autokonjunktur es will
Die Maxime „Wachstum und Wohlstand für alle“ nimmt die Automobilindustrie sehr ernst. Nach der Sättigung der Märkte in den Industrienationen setzen die großen Konzerne auf wachstumsträchtige Schwellenländer mit kontinentalen Ausmaßen wie China, Rußland, Indien und Brasilien. „Brasilien verfügt über ein außerordentliches Potential“, schwärmt Euclides Fontana von Mercedes-Benz. Der Konzern, der in Brasilien Nutzfahrzeuge produziert, spielt erstmals mit dem Gedanken, auch Personenfahrzeuge in dem größten Land Lateinamerikas herzustellen. „Wenn die Wirtschaftsreformen langfristig Erfolg haben und der Markt es verlangt, ist dies denkbar. Brasilien war immer in unserem Blickfeld“, sagt der Mercedes-Pressesprecher.
Während seine Firma noch zögert, kämpft die Konkurrenz bereits um die Anteile des brasilianischen Automarktes, auf dem im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Fahrzeuge abgesetzt wurden. Brasiliens VW-Chef Pierre Alain De Smedt kündigte im vergangenen Monat Investitionen in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar in den nächsten fünf Jahren in Brasilien an (die taz berichtete). Der italienische Autokonzern Fiat begann bereits 1994 mit dem Ausbau seiner Produktion.
Noch teilen sich in Brasilien statistisch gesehen 11,6 Menschen ein Auto. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik beträgt das Verhältnis Auto zu Einwohner 1,9 und in den USA 1,3. „Wenn wir das Verhältnis in Brasilien auf fünf zu eins senken, bedeutet dies 20 Millionen Neuwagen“, schwärmt der Sprecher des Automobilverbandes. Allein der brasilianische Markt würde spätestens im Jahr 2000 jährlich zwei Millionen Neuwagen absorbieren. Hinzu käme dann noch die Nachfrage aus den Nachbarländern Argentinien, Paraguay und Uruguay.
Die 16 Millionen Einwohner des Großraumes São Paulo bekommen die Folgen der Massenmobilisierung schon heute zu spüren: Nach Angaben der Stadtverwaltung steht die Hälfte der Bevölkerung täglich zweieinhalb Stunden im Stau. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der 21 Millionen Menschen, die sich täglich per Bus oder Auto durch die Straßen drängen, beträgt zehn Stundenkilomter. Die zwei Millionen U-Bahn- Passagiere fahren schneller: 37 Stundenkilometer. Doch das unterirdische Schienennetz beträgt gerade 44 Kilometer. Der größere Teil des öffentlichen Nahverkehrs wird mit 10.000 Bussen abgewickelt. Die größte Busflotte weltweit und die 4,3 Millionen Pkws sind für 90 Prozent des Kohlenmonoxydausstoßes in der Metropole verantwortlich.
Nach Ansicht des Bürgermeisters von São Paulo, Paulo Maluf, ist der Verkehr in der drittgrößten Metropole der Welt dennoch nicht „chaotisch, sondern lediglich schwierig“. „Auf irgendeine Weise fahren die Leute zur Arbeit und kommen abends auch wieder nach Hause“, sagt Eliana Haeberli von der „Companhia de Engeneria de Transito“, einer zur Stadtverwaltung gehörenden Firma, die für die Regelung des Verkehrs zuständig ist. In der ägyptischen Hauptstadt Kairo sei die Situation wesentlich schlimmer, da gebe es noch nicht einmal Verkehrsschilder...
„Wir warten auf den Tag, an dem niemand nirgendwo mehr hinkommt“, ironisiert Brasiliens Greenpeace-Chef Roberto Kishinami. Die internationale Umweltorganisation will in den brasilianischen Wintermonaten Mai bis Juli, wenn dichter Verkehrssmog insbesondere bei Kindern Atemschwierigkeiten hervorruft, ihre Anti-Auto-Kampagne wieder aufnehmen. „Keiner“, so wundert sich Kishinami, „hat bis jetzt eine ökonomische Analyse des ungehemmten Wachstums der Automobilindustrie aufgestellt.“ Die Gelder in Millionenhöhe, die in den Straßenbau investiert würden, sowie die verlorene Zeit im Stau würden alles verteuern. Ähnlich argumentiert Alberto Sheik vom Umweltministerium des Bundesstaates São Paulo: „Bevor ein Wasserkraftwerk ans Netz geht, muß eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgelegt werden. Dabei hat die Zulassung von mehr als tausend Neuwagen pro Tag beim TÜV in São Paulo wesentlich gravierendere Auswirkungen auf die Umwelt“, empört sich der Umweltsekretär.
Dennoch scheut die Landesregierung São Paulos vor einem zeitweisen Fahrverbot bei Smoggefahr zurück. Die unpopuläre Maßnahme würde zu einer Flut von Verfassungsklagen führen, bei denen Bürger auf ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit beharrten, ist sich Sheik sicher. Die einzige, mäßig wirksame Handhabe, den Ausstoß der schädlichen Autoabgase verstärkt zu kontrollieren, ist ein in der vergangenen Woche vom Gemeinderat in São Paulo verabschiedetes Gesetz: Danach müssen von 1996 an nicht nur die Neuwagen auf ihre Emissionen hin überprüft werden, sondern alle Autos ab Baujahr 1989.
Die brasilianische Automobilindustrie schert sich weder um das Verkehrschaos noch um die globalen Auswirkungen der brasilianischen Massenmotorisierung auf die Umwelt. „Die Verkehrsregelung ist eine Aufgabe der öffentlichen Hand. Oder sollen wir jetzt auch noch Züge herstellen?“ empört sich ein Vertreter des Automobilverbandes.
Genau dies fordert Alberto Sheik vom Umweltministerium in São Paulo. „Die Lösung ist, den Verkehr auf die Schiene zu verlegen, daran gibt es keinen Zweifel“, erklärt er. Doch das hochverschuldete Bundesland hat in diesem Jahr nicht einen Pfennig für Investitionen im Nahverkehr übrig. In seiner Ohnmacht setzt der Umweltpolitiker auf die kreative Kraft des Chaos: „Erst wenn nichts mehr geht, finden sich effektive Lösungen.“
Bis dahin wird wohl noch eine Weile vergehen. Denn die Mehrheit der Brasilianer teilt die Überzeugung ihres Expräsidenten Juscelino Kubitschek, der den Staat in den fünfziger Jahren regierte: Einem Land ohne Autoindustrie bleibt der Zutritt zum Klub der Reichen für immer verwehrt. Der Gründer der brasilianischen Hauptstadt Brasilia holte in den fünfziger Jahren als ersten Autokonzern VW nach Brasilien. Damals kam auf 121 Brasilianer gerade ein Auto. Mittlerweile ist das tropische Riesenreich zur zehntgrößten Industrienation aufgestiegen. Der Wunsch nach einem eigenen Auto, in Brasilien für umgerechnet zehntausend Mark nagelneu zu haben, ist seitdem ungebrochen. Umweltschutz steht bei der Mehrheit der Bevölkerung, die sich im gleichen Maße für Formel-1-Rennen wie für Fußball begeistert, an letzter Stelle. Astrid Prange, São Paulo
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen