97 Minuten Theatergeometrie

■ Heiner Müllers „Hamletmaschine“ als Multimedia-Spektakel im Podewil

Der Theaterabend als Informationsflut. So liest der bat-Student und Regisseur Tobias Veit „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller. In den Fluten schwimmend und rudernd: zwei Hamlet- Darstellerinnen, drei Sängerinnen. Ihre Inseln und Rettungsanker: 48 Holzwürfel, schätzungsweise 48 Kubikmeter. Doch die Inseln sind keine der Ruhe und Erholung, sie sind Informationsträger, die pausenlos umgeschichtet werden müssen. Das Schauspiel gerät zur schweißtreibenden Knochenarbeit (und dezent ins Hintertreffen); die Würfel sind überdimensionale Pixel, die sich ständig zu einem neuen Bild formieren, dramaturgische Notizen und antagonistische Stichworte zur Hamlet(maschinen)analyse. – „Hamlet“, hier abgespeichert unter „tragedy/ comedy“, „offence/defence“, „victim/culprit“, „will/fate“ und und und. Auch Stichworte zum Regiekonzept sind auf gegenüberliegenden Würfelseiten auszumachen: „Text/Context“, darum geht es Veit. Das Inselhopping der Darstellerinnen gerät mithin zum Kommentar zu(r) Hamlet(maschine), nach und nach offenbart sich eine strenge Choreographie der scheinbar willkürlichen und hektischen Umschichtungen der Würfel und Worte.

Der ungeordnete Berg der Holzklötze formiert sich zum Ring, zum geometrischen Raster, im dritten Akt gar zum Turm, der das gesamte „Scherzo“ der Hamletmaschine wiedergibt. Am Ende: eine kahle Wand. Nach und nach schleicht sich die dritte Dimension der Würfelworte ein. Zu „Hamlet“ gehört das Wortpaar „innocence“ und „guilt“. Die vierte Dimension sind drei Videoleinwände, die uns mal blau, mal weiß, mal im Störprogramm anstrahlen. Meist jedoch übertragen sie das Geschehen auf der Bühne aus zwei verschiedenen Perspektiven zeitlich miminal verzerrt und per Trick dreifach geschichtet.

97 Minuten Theatergeometrie (Würfelinstallation: Michael Hofstetter) und Datenübertragung. Sinnliches Theater ist das gewiß nicht, dazu kratzen und quietschen auch die Stimmen der Darstellerinnen zu heftig, zu sehr sind sie als Kontrapunkt zur Rhythmik und Sprachmelodie des Müller-Textes angelegt. (Nichts ist zu hören von der nasal-sonoren Stimme Blixa Bargelds, ebenso wenig von der Müllerschen Nüchternheit, die die „Einstürzende Neubauten“-Aufnahme der „Hamletmaschine“ zum Genuß macht.)

Nach der Hälfte der Zeit, gerade als die drei Sängerinnen am Werk sind, lichten sich die Reihen im Saal. Tatsächlich ist der opernhafte Dissonanzgesang die große Schwachstelle der Inszenierung. Die gewollte Künstlichkeit wird hier pathetisch verzerrt, was teils an mangelnder schauspielerischer Fähigkeit der Sängerinnen liegt, teils an der schwülstigen Komposition von André Werner. So entlarvt die opereske Einlage letztlich allein die zwanghafte Multidimensionalität der Inszenierung: traditionelle Kunstgattungen in Gemengelage mit Visual Art.

Um am Leben zu bleiben, muß das postmoderne Theater simultan übersetzen, was die Mediengesellschaft bietet: Digitalisierte Akustik und animierte Videoprojektionen verwirren die Sinne ohne Sinnlichkeit, manchmal auch ohne Sinn. Dazwischen wird bei den genial abscheulichen Stichworten „Der Mutterschoß ist keine Einbahnstraße“ eine gymnastische Pornodarstellung eingeblendet (Penetration und Cunnilingus simultan in Großaufnahme), die völlig aus dem Rahmen fällt. Schließlich bietet der Text mit seiner Autorenreflexion auch die Möglichkeit, den abgemagerten Müller, in seinem möglichen Sterbebett aufgenommen, einzuspielen.

Krächzend spricht er übers Sterben, zäh wie eine Möwe flüstert er gegen die Informationsbrandung an. Müller, der Unzugängliche, der Sperrige, Rätselhafte und Kopflastige. Ihm ist die Inszenierung gewidmet; das Unzugängliche wurde intellektuell vielschichtig mit einem Hang zum Formalismus übersetzt. Eine Hamletmaschinen-Maschine. Petra Brändle

Bis morgen, 20 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68–70, Mitte