Wilder Paarungsruf der Figuren

■ „Der Tod und das Mädchen“ – Sigourney Weaver und Ben Kingsley im Kammerspiel, und Roman Polanski ist wieder da

Mit Jubelschreien warfen sich Provinzdramaturgen vor ein paar Jahren auf dieses Stück, das bald die Staatstheaterlandschaft auf und ab raste. Schluß mit den angemoderten Dürrenmatts und Frischs. Ariel Dorfmans „Der Tod und das Mädchen“ war ein höchst aktuelles, auch noch in Lateinamerika entstandenes Drama und liefert Fragen wie Schuld und Sühne, Rache und Vergebung, Gewalt und Gegengewalt und die aristotelischen drei Einheiten gleich mit. Nach der Aufführung am Broadway mit der Starbesetzung Glenn Close, Gene Hackman und Richard Dreyfuss war es nur eine Frage der Zeit, wann auch das Kino „den wilden Paarungsruf der Figuren“ (Dorfman) vernehmen würde.

Chile während der „Demokratisierung“. Nach einer Reifenpanne fährt der hilfsbereite Arzt Roberto Miranda den angesehenen Anwalt Gerardo Escobar nach Hause. Gerade wurde Escobar zum Vorsitzenden einer Kommission bestimmt, die die Verbrechen der Diktatur untersuchen soll. Im Nebenzimmer glaubt Paulina Escobar in der Stimme des Doktors die des Mannes zu erkennen, der sie vor Jahren mit Elektroschocks folterte und vergewaltigte – zu Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“. Miranda wird zum Angeklagten. An einen Stuhl gefesselt, beteuert er seine Unschuld, während Paulina auf Rache sinnt und der verdutzte Gerardo zu vermitteln sucht.

Bis aufs dramatische Ende über wellenschäumenden Klippen wahrte Polanski die Geschlossenheit der Situation, läßt seine Chilenen Sigourney Weaver, Ben Kingsley und Stuart Wilson anderthalb Stunden im einsamen Landhaus aufeinanderhocken. Wenn sich angloamerikanische Schauspieler in lateinamerikanische Seelen vertiefen, droht große Peinlichkeit („Das Geisterhaus“) doch daran spielt sich das Trio wacker vorbei. Für Sekunden glaubt man Mahatma Gandhi auf den Stuhl gefesselt, sieht kurz ein Alien aus der Ecke zischen.

Nun kann auch Polanski aus Dorfmans Gerechtigkeitsdrama kein Meisterwerk moralischer Differenziertheit herauswringen. Aber warum muß er die Chose konsequent im biederen Schnitt- Gegenschnitt-Verfahren zerlegen? Paulina hier, Roberto da, Gerardo dort. Keine Chance, die Stereotypen des Textes („Laß ihn gehen, Paulina, zum Wohle unseres Landes, zu unserem eigenen Wohl“) wenigstens hin und wieder mit schauspielerischen „Klicks“ in etwas längeren Szenen zu überwinden. Und es wird geredet und geredet. Als sei ein jahrzehntealtes Foltertrauma in Null Komma nix von der Verdrängung auf die Zungenspitze zu transferieren. Ohne einen Moment des Schweigens, mit reibungsloser Eloquenz. Paulinas detaillierte Schilderungen der Foltermethoden ähneln exakt denen, die jede Woche im Stern zu lesen sind. Spekulativ, mit sicherem Gespür für den Effekt aufs Individualpsychologische reduziert, den Zuschauer seiner moralischen Betroffenheit versichernd. Gelangweilt von den sprechenden Köpfen, sucht die Kamera immer wieder das Weite, zieht Kreise zu thrillendem Sound.

Zwar hält Ben Kingsley die Balance zwischen freundlichem Nachbarn und verlogenem Schergen, ist man nicht ganz sicher, ob Paulina, der während der Torturen die Augen verbunden waren, wirklich Stimme und Geruch ihres Peinigers zu erkennen vermag, doch auch der Zweifel wirkt wie sauber mit der Schablone gezogen. War er's, oder war er's nicht, netter Nachbar oder Faschistenbüttel? Auch Polanski bleibt beim Entweder-Oder. Ist Miranda der Täter, war der hilfsbereite Nachbar nur Verstellung, wird er unschuldig verdächtigt, war Paulinas Rachetribunal nur der Wahnwitz des hysterischen Opfers?

Furcht und Mitleid wolle er mit seinem Stück hervorrufen, schreibt Dorfman im Nachwort, Katharsis im aristotelischen Sinne einer „Purgierung“ als befreiende Erleichterung, die es der Gesellschaft nach der Diktatur ermöglichen soll, sich selbst zu reinigen. Doch das Entweder-Oder ist ein Sowohl- Als-auch. Der liebe Nachbar ist nicht nur die Maske des sadistischen Folterers. Als zartfühlende Seele nimmt der Knochenmann das junge Fräulein in jenem Lied, das Schubert vor dem gleichnamigen Streichquartett komponierte, mit zu den Toten: „Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!/ Bin Freund und komme nicht zu strafen/ Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,/ sollst sanft in meinen Armen schlafen.“ Katja Nicodemus

„Der Tod und das Mädchen“, Regie: Roman Polanski. Kamera: Tonio Delli Colli, Buch: Yglesias/ Dorfmann, Mit: Sigourney Weaver, Ben Kingsley, Stuart Wilson u.a.; USA, 1994, 104 Min.