Mehr Fleisch auf die mageren Knochen

■ Nach Jahren des Zögerns wird die Neue Musik endlich ein echter Schwerpunkt an der Hochschule: Studien in Theorie und Praxis – und ein erstes, vielversprechendes Konzert

Streichquartette von 1908 (Béla Bartók) und 1966 (Dimitri Schostakowitsch), ein Klaviertrio aus dem Jahr 1948 (Hans Werner Henze): Das soll Neue Musik sein? Nein; genau um solche handelte es sich kurioserweise nicht beim ersten Konzert des „Ateliers Neue Musik“, das seit kurzem im Fachbereich Musik an der Hochschule für Künste besteht. Der Leiter des Konzertes hat seine Gründe für die Auswahl: „Hier war nichts. Ich muß auf etwas aufbauen, erst dann kann man Cage, Feldman und Berio spielen“, sagt Thomas Klug, Konzertmeister der Kammerphilharmonie und Lehrbeauftragter an der Hochschule.

Allein schon die Qualität der Ausführung dieses ersten Konzerts bekommt vor diesem Hintergrund Bedeutung. Hier leuchtete die Chance auf, daß diese kleine Hochschule wieder ein spezifisches Renommee erreichen könnte. Die Interpretationen von Schostakowitsch und Henze waren gut im Sinne wirklicher Kammermusik, und noch besser der Bartók: reiche Klangfarben, vitaler Impuls und souveräner gemeinsamer Atem.

Ganz von alleine kann der Aufbau des „Ateliers Neue Musik“ allerdings nicht gehen. Jahrzehntelang ist man hier um wirklich Neue Musik – mit Ausnahmen selbstverständlich – herumgeschlichen wie die Katze um den heißen Brei. Die neue Kompositionsprofessorin Younghi Pagh-Paan hat in diesem Ödland mehr zu tun, als sich nur um die Belange ihres Fachs zu kümmern. Zuerst einmal ist es für die InitiatorInnen wichtig, daß das Spielen von Neuer Musik für alle StudentInnen obligatorisch wird – zwei Semester sind dafür geplant. „Das wollen wir erreichen über eine Studienordnung, in der man unter Neuer Musik nicht nur die von Hindemith versteht“. „Dann sind wir angewiesen auf die Solidarität der anderen Dozenten, die ihre Schüler natürlich auch zu unseren Kursangeboten schicken müssen, zum Workshop Herbert Henck zum Beispiel“. Henck bietet einen Kurs für Klaviermusik des 20. Jahrhunderts an. Darüberhinaus sind Komponisten für sechstündige Einheiten eingeladen, in diesem Semester Nicolaus A. Huber und Hans Wüthrich. Ein mobiles Ensemble muß entstehen, GastdirigentInnen als ProjektleiterInnen müssen eingeladen werden, eine Bibliothek muß aufgebaut werden, ein elektronisches Studio vorhanden sein ...

Younghi Pagh-Paan gibt gerne zu, daß das alles ganz langsam geht und daß die Ungeduld einiger KompositionsstudentInnen ihre Berechtigung hat: Sie werden am 27. Juni ein Konzert mit ihren Werken geben. KomponistInnen müssen das hören, was sie geschrieben haben, und wo ist der Ort für diese lebenswichtigen Erfahrungen, wenn nicht in ihrer Hochschule? „Komposition ist nur zu entwickeln, wenn Interpreten da sind“. Das nimmt neben den Einzellehrer-Innen besonders die Dirigenten in die Pflicht, neben Martin Fischer-Dieskau in diesem Falle Thomas Klug. Der freut sich in Zukunft auf wirklich Zeitgenössisches, wie er versprochen hat.

Eine Musikhochschule ohne Komposition kann sich so nicht nennen, sagt Younghi Pagh-Paan, was auch der Musikwissenschaftler der Hochschule, Nicolas Schalz, meint: „So lange ich hier nur Ästhetische Theorie anbieten konnte, fehlte sozusagen das Fleisch am Skelett. Zuerst muß die Praxis kommen.“ Ästhetische Theorie allerdings, etwas einfacher gesagt, das Nachdenken über die Konzeptionen und Positionen von Neuer Musik, sei unerläßlich, mehr noch als in Alter Musik. Und so soll zum Hauptstudium denn auch Ästhetische Theorie gehören. „Sie müssen doch einfach verstehen, was sie spielen,“ sagt Thomas Klug.

Das in der bremischen Situation hochgesteckte, von der Sache her allerdings selbstverständliche Ziel ist „die Integration der Neuen Musik in den gesamten Lehrbetrieb“ (Pagh-Paan). Noch sind die Barrieren da, wie ja auch das Repertoire des ersten Konzertes zeigte. Aber: „Ich habe mit allen gesprochen, die Bereitschaft ist da“, sagt Younghi Pagh-Paan. Ute Schalz-Laurenze