„Brachte ihm den Faust“

In einem Oxforder Hospital besuchte die Emigrantin Marie Kuhn als Dolmetscherin deutsche Kriegsgefangene und protokollierte in ihrem Tagebuch, welche Vorstellungen die Nazi-Ideologie in den Köpfen der Soldaten hinterlassen hatte

17. Februar 1945

Besuch bei einem POW [engl.: prisoner of war, Kriegsgefangener, d. Red.] namens Gerhard G. Er stammt aus Ohrenbach, Kreis Rothenburg ob. d. Tauber, ist 37 Jahre alt, sieht aus wie ein Mann von 50, ein Bauer mit vier Kindern zu Hause. Auf der Station ist man sehr nett zu ihm. Eine alte Dame hat ihm etwas zum Sticken gebracht, und er ist eigentlich ganz glücklich, hier zu sein; er meint, hier sei alles viel besser. „In Deutschland ist's schlimm, da gibt es gar nichts mehr.“

21. Februar

Zeigte G. Bilder vom englischen Lande, was er sehr genoß. Wo immer er einen Bauern, Pferde, Felder entdeckte, konnte er sich gar nicht sattsehen, sagte: „So wie ich, bin auch ein Bauer.“ Es war wirklich rührend.

23. Februar

Saß eine halbe Stunde bei G. Er war bei der Marine-Flak, wo er 27 Pferde zu versorgen hatte. Zeigte ihm Bilder aus Deutschland, auch einige von Rothenburg – er war ganz hingerissen, sagte immer wieder „meine Heimat“. Hörte von einem anderen POW, der gerade eingeliefert war, und suchte nach ihm. Er heißt Willi H., 27 Jahre, aus Bruchsal. Verwundet an den Beinen und am Rücken. Er spricht völlig desillusioniert, meint, in Deutschland sei schlicht „nichts mehr da“. Machte ihm ganz klar, wer ich bin, wann und warum ich Deutschland verlassen hatte.

24. Februar

Zehn Minuten bei H. Man hatte ihm einen Katheter in die Blase eingeführt, er war sehr weiß im Gesicht. Von Beruf war er Fernfahrer gewesen, zwischen München und Mannheim. Nach fünf Jahren Luftwaffe, als Pilot von Transportflugzeugen, die Verwundete von der Rußlandfront zurückbrachten, hatte man ihn für „fluguntauglich“ erklärt und in die Infanterie gesteckt, was ihn sehr verbitterte.

25. Februar

H. erzählte mir seine traurige Geschichte: Sein Bruder war mit 18 Jahren an der Ostfront gefallen; sein Vater war bei einem schrecklichen Unfall umgekommen. Seine Frau war im November im Alter von 24 Jahren gestorben, an Scharlach mit nachfolgender Lungenentzündung. Sein kleines Eigenheim, in der Nähe von Stettin, inzwischen wohl in russischen Händen. Er ist sehr überrascht, fast ungläubig, wie perfekt er versorgt wird, durch Fachärzte, Schwestern usw. Wurde von Brüssel nach England geflogen – all das widersprach der deutschen Propaganda, wonach es Ziel der Alliierten sei, „die Deutschen zu vernichten“. Ich erzählte ihm, Hitler habe heute wieder verkündet, wie oft schon in der Geschichte, ein unerwartetes Wunder das Land gerettet habe. H. meinte bitter: „Ja, die Wunderwaffe, auf die warten mer lange schon!“ Und dann brach es aus ihm heraus: „Wenn die doch schon Schluß machen würden daheim!“

26. Februar

Sprach mit H. Erzählte ihm von den jetzt entdeckten Greueltaten, die in Polen begangen wurden; die Gaskammern in Lublin. [Es handelt sich um das nach dem Lubliner Stadtteil Majdan Tatarski benannte KZ Majdanek; die Bezeichnung im deutschen Schriftverkehr lautete Konzentrationslager Lublin. In Majdanek gab es sieben Gaskammern, im September 1943 wurde ein Krematorium mit fünf Brennöfen gebaut. 40 Prozent der über 250.000 in Majdanek ermordeten Menschen, sind vergast worden.

d. Red.].

Er meinte, von so etwas habe er nie gehört, er glaube, auch andere nicht. War sichtbar erschüttert, glaubte mir alles. Ich versuchte ihm zu erklären, was das für den Rest der Welt bedeutet.

28. Februar

Wollte G. besuchen, aber er war nicht mehr da. Ging dann zu H. Wir hatten ein langes Gespräch – er fragte nach neuen Meldungen vom Krieg (Umzingelung von Köln, Straßenkämpfe in Breslau, schwere Tag- und Nacht-Luftangriffe auf fast jede deutsche Großstadt). Fragte, ob er nie gehört habe, was in Lidice geschehen ist? Ja. Er hatte etwas gehört. Zeigte ihm Bilder, einige von norwegischen Flüchtlingen; er beginnt zu realisieren, welches Elend dieser Krieg über die Welt gebracht hat. Wir versprachen uns, nach dem Krieg wieder Kontakt aufzunehmen – damit ich erfahre, ob seine Beine wieder in Ordnung kommen.

5. März 1945

Wieder bei H., er stöhnte laut, seine Beine machten ihm so zu schaffen. Aber im Lauf der Stunde, die ich blieb, lebte er auf und vergaß den Schmerz. Erzählte ihm das Neueste: zwei deutsche Armeen aufgerieben, Krefeld in der Hand der Alliierten, großer russischer Vorstoß im Osten. Er erzählte mir von seiner drei Jahre alten Tochter in Pasewalk bei Stettin, hatte sie nie zuvor erwähnt; sie heißt Gitta und ist dunkelhaarig wie er selbst und wie seine Frau. Als er seine Frau beschrieben hatte, meinte er noch, wie angewidert er ist von all dem Puder und Lippenstift, hält einige der Schwestern für zu stark geschminkt.

7. März

H. sehr matt, er hatte gestern eine Operation, bei der sie ihm ein Stück Metall aus dem Rücken holten. Wollte aber, daß ich bleibe. Berichtete ihm die jüngsten Ereignisse: Köln in alliierter Hand, Stettin (das interessiert ihn sehr) unter russischem Beschuß. Wir sprachen über die Grausamkeiten der Russen gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung, auch gegenüber Frauen und Kindern; er bestreitet, daß sich deutsche Soldaten in Rußland genauso benommen hätten, meint, das allgemeine Verhalten sei gut gewesen. Über die russischen Frauen: Sie seien so verkommen und unattraktiv gewesen, daß kein Deutscher sich von ihnen angezogen fühlen konnte.

9. März

H. hat keine akuten Schmerzen, außer den Wundschmerzen nach der Operation. Ich sagte, er habe jetzt viel Zeit zum Nachdenken – über das Vorkriegs- wie das Nachkriegsdeutschland; aber er antwortete: „Denken, das tue ich schon lange nicht mehr“, und ich glaube es ihm.

11. März

Willi H. fühlte sich heute viel besser. Erzählte mir eine Menge über das Leben in der deutschen Armee; ist ziemlich verbittert über seine Vorgesetzten, alles Parteileute, die den anderen Vorschriften machen, sich selbst aber nicht daran halten – berichtete mir über eine Menge Besäufnisse und Plünderungen. Und auch die Geschichte von einem „Blitzmädel“ die sich in Lille mit einem Neger eingelassen hatte – „Rassenschande“, man werde sie für ihr Verbrechen hinrichten, „Kopf ab“, wie er sich ausdrückte.

12. März

Das Rote Kreuz rief an, viele neue Fälle sind eingetroffen. Ich sah innerhalb kürzester Zeit auf Station S2 Franz M., 19 Jahre, und Gerhard Sch., 17, aus der Nähe von Kassel. M. ist noch sehr benommen, Sch., mit einer vier Wochen alten Kopfwunde, wie ein ernstes Kind; er ist ansprechbar. Auf Station S1 Adolf S., 21, auch noch sehr benommen, aber froh, mich zu sehen, und Wilhelm G., aus Hamburg, 39 Jahre und Vater von vier Kindern. Er hatte eine Operation und war sehr krank. Er weinte viel: „Oh, meine Frau, die ist so gut, so gut und die Kinder. Ich wünschte, ich wäre gefallen, mein armes Deutschland.“ Als ich ihm sagte, der Krieg sei bald vorbei und er würde dann heimkehren, schluchzte er: „Nicht nachgeben, nicht nachlassen. Sie dürfen mich nicht schwach machen.“

13. März

Adolf S. auf S1, brachte ihm Streichhölzer und Kuchen, unterhielt mich mit ihm – er ist noch ein bißchen benommen und kann wegen seiner Kopfverletzung nicht sehen. Er ist aus Unteruhldingen am Bodensee. Auf derselben Station Wilhelm G., heute geht es ihm besser, er entschuldigt sich für sein schlechtes Benehmen von gestern, als er von der Operation kam. Ich beruhigte ihn, schrieb einen Brief und Karten an seine Frau, die jezt bei Soltau lebt. Er ist überzeugter Nazi, nicht fanatisch, aber dennoch wie gebannt. Hat in Leipzig und Prag „Germanistik und Geschichte“ studiert. Wir unterhielten uns etwas über Politik, ich versuchte, mich nicht zu „zanken“, aber er kann überhaupt noch nichts einsehen. Er und all die anderen fürchten nichts so sehr wie die Russen, daß sie durch Deutschland durchrücken und am Ende gegen die Alliierten kämpfen würden. Auf Station M2 traf ich noch einen POW an, Hans H., 23 Jahre, aus Duisburg. Sohn eines Fabrikanten, mit sehr blonden, fast weißen Haaren, sehr blauen Augen, offensichtlich hat er das linke verloren. Er ist kein Nazi und insgesamt recht offen und angenehm in der Unterhaltung. Ich ließ ihm ein Buch da und Papier.

14. März

Auf S1 redete ich mit S. vom Bodensee, ein sehr netter Junge. Wir kamen auf die Verbrechen, die von Deutschland überall in Europa begangen wurden; d.h., er schien von all diesen Dingen aufrichtig nichts zu wissen und war ganz offen schockiert. Er kann noch nicht lesen und kaum sehen, hat eine Wunde im Hinterkopf. Dann Wilhelm G. auf derselben Station. Er ist ein Fanatiker, ohne Zweifel, und ich bin mit ihm ziemlich kurz angebunden. Es ist ganz unmöglich, ihn von irgend etwas zu „überzeugen“ irgendwie ist er, auf eine sentimentale Art, zu verbissen. Brachte ihm Goethes Faust, worum er gebeten hatte. Auf M2 besuchte ich Hans H., den ich zu mögen anfange. Soweit ich es beurteilen kann, sieht er die Dinge von allen am klarsten, äußert sich vernünftig. Er ist auch der erste, der zum Beispiel etwas über die Gasmorde von Lublin gehört hatte. Wie erfuhr er das? Nun, er hatte eben seine Informationen, alle sehr geheim, sagt er. Was hat er damals darüber gesagt? Mußte meine Gedanken für mich behalten, sagte er.

15. März

Besuchte Hans H., er schrieb gerade Musik – er komponiert eine Operette, wie er sagt. Muß ihm Notenpapier mitbringen; den Roman hatte er schon ausgelesen. Auch ihm hatte man gesagt, und er hatte es geglaubt, daß man sie kastrieren würde, sobald sie in die Hände der Alliierten fielen. Ich hoffe, es gibt noch mehr seines Alters, die so einsichtig sind wie er. Auf S1 sprach ich mit S., der immer noch nicht lesen kann. Er war Friseur, hängt an seinem Beruf, hat Angst, ihn seiner Augen wegen nicht mehr ausüben zu können. Ich versuchte es mit sehr großen Buchstaben – die konnte er lesen. Auch S. glaubte an die Kastrationsgerüchte.

16. März

Höre von einem Neuankömmling: Helmut B., 26 Jahre, aus Schlesien, dunkles, lockiges Haar, glänzende braune Augen. Erzählt, er habe bislang nicht viel vom Krieg gesehen, nie selbst einen Schuß abgefeuert, saß drei Jahre lang in Amtsstuben in Griechenland. Er ist sehr gerührt von der Behandlung und Zuwendung, die er hier erfährt. Er könne nicht ver- stehen, warum die ganze Welt Deutschland so sehr haßt. Weiß nichts von irgendwelchen Greueltaten, sagt aber, er habe gesehen, wie Juden in Wien nach Warschau verfrachtet wurden, und habe den Anblick gehaßt. Er dachte immer, „sie seien auch Menschen“. Er sei nie ein Nazi gewesen.

20. März

Ein neuer Mann wurde eingeliefert, Ernst F., 20 Jahre, aus der Nähe von Hannover, sehr schwer verwundet, stöhnend, Blut spuckend, mit großen Schmerzen. Der Arzt sagt, es sei ein Wunder, daß er noch lebt; seine erste Wunde stammt von der Handgranate, die an seinem Gürtel hing und durch Granatsplitter zur Detonation gebracht wurde. Captain H. [ein britischer Militärarzt; d. Red.] meint, wäre er in deutsche Hände gefallen, wäre er jetzt tot, denn die würden solche Fälle, die als Soldaten nutzlos geworden sind, nicht mehr operieren.

22. März

Zuerst zu S., für den ich einen Brief schrieb. G., auf derselben Station, muß mit Nazi-Sprüchen auf ihn eingeredet haben, es war eindeutig zu spüren. S. selbst hat natürlich im Grunde keine „Ansichten“. Ich schrieb eine Postkarte für G., an seine Eltern in Leipzig, Adolf-Hitler-Straße! Vermied alle politischen Themen, erzählte ihm nur etwas über das Leben in England und gab ihm ein neues Buch.Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung von Seite 12

23. März 1945

Auf Station M1 waren die Schwestern gerade dabei, Ernst F. umzubetten. Sie sind sehr verdrossen und unglücklich mit ihm; was immer sie für ihn tun, scheint ihn zu beleidigen oder zu ärgern. Erzählte ihm die neuesten Meldungen: Gen. Rundstedt ist von der Westfront versetzt worden, an seiner Stelle jetzt Kesselring. F. behauptet aber, Rundstedt sei schon lange nicht mehr im Westen gewesen, bereits vor einiger Zeit in den Osten versetzt worden. „Sie werden Deutschland nicht runterkriegen – nie kann man Deutschland bezwingen (übrigens ist er noch keine 20 Jahre), der eigentliche Krieg geht ja gegen den Osten; den Westen wollten wir ja nie bekämpfen – deswegen ist ja überhaupt Krieg, weil wir uns all die deutschen Gebiete wiedergeholt haben – Österreich, Saargebiet, Böhmen und Mähren.“ Aber ich kann nicht richtig mit ihm reden, er ist zu krank. Er fragte mich allerdings, warum ich hier [in Oxford; d. Red.] sei, und ich nannte ihm die Gründe. Er sagte, er wisse von einigen schrecklichen Verbrechen, die in Polen begangen wurden.

26. März

Bei B. Ein deutsch sprechender Arzt hat ihm gesagt, daß das eine Bein nie mehr funktionieren wird, aber er hofft noch für das andere. B. natürlich sehr deprimiert, sieht sich als lebenslangen Krüppel. Versuchte ihn irgendwie aufzuheitern; er hat großes Vertrauen zu mir und erzählte, was er „den Leuten zu Hause nicht erzählen würde: daß er und seine Familie zu einer bestimmten Sekte gehören“, zu den „Bibelforschern“. (Es klingt ziemlich harmlos und entspricht wohl den Zeugen Jehovas.) Aber viele von ihnen seien im Konzentrationslager, weil sie gegen das Regime seien.

28. März

Der vierte auf dieser Station ist jetzt Kurt Sch., 18 Jahre. Er kam erst gestern nacht, noch ganz verdreckt vom Schlachtfeld. Kopfverletzung und schlimmes Auge, große Schmerzen, heulend vor Heimweh. Schrieb eine erste Nachricht für ihn nach Hause, dann kam er direkt in den Operationssaal.

Saß dann bei Willi H., der wahrscheinlich morgen ins Feldlazarett entlassen wird. Der Arzt meinte, es sei noch zu früh für eine Aussage, aber in vergleichbaren Fällen hätten die Leute wieder laufen gelernt, nachdem eine unerwartete Besserung eingetreten war. H. war leicht melancholisch, meinte: „Manchmal denke ich, wozu lebt man eigentlich noch?“ Sagte ihm das, was man auf solche Fragen sagen kann: Er solle an seine kleine Gitta denken usw. Gab ihm ein Taschentuch und ein Bild von Oxford als Andenken. Er hat mir einmal geschildert, wie er im Flugzeug vom Schlachtfeld nach England geflogen wurde, ein britischer Offizier hatte neben seiner Tragbahre gesessen und ihm den Schlauch für seine Blase gehalten, wie unsinnig und schrecklich das alles sei, daß man im einen Moment versucht, sich gegenseitig umzubringen, und im nächsten Moment, sich das Leben zu retten. Wie recht er hat.

Karfreitag, 30. März

F. wird immer schwieriger. Die Stationsschwester, eine kluge, resolute Person, urteilt sehr harsch über ihn: „Ein richtiger Nazi, der schwierigste, undankbarste Patient, den ich je erlebt habe“ usw. Und er ist wirklich unangenehm, auch zu mir nicht freundlich, es stimmt schon – nur daß er mir dennoch leid tut, dieses menschliche Wrack, und ich spüre, daß er Hilfe braucht.

31. März

Ein neuer POW, noch ein Junge von 17 Jahren, sein Name ist Ewald Sch. Kopfverletzung, kann noch nicht viel verstehen oder sprechen. Wieder aufmunternde Worte zu F., sagte ihm ganz offen, daß er sich überhaupt nicht bemüht, den Schwestern wenigstens mal einen freundlichen Blick zu schenken. Er sagt, er könne das nicht, habe zuviel Schmerzen; warum bloß konnten ihn die Sanitäter nicht auf die deutsche Seite bringen, er wäre lieber tot. Schrieb einen Brief für ihn nach Hause, mußte ihn ganz allein schreiben, ihn interessierte es nicht.

Ostersonntag, 1. April 1945

Ging mit einer kleinen Tüte Süßigkeiten zu dem jungen Kurt Sch., redete lange mit ihm, er spricht sehr unbefangen. Es deprimierte mich, diese verquere Mischung mitanzuhören: kindliche Romantik, kleine Liebesgedichte und Briefe. – „dem lieben Bubi von seiner lieben Hedi“ niedliches Liebesgestammel auf Notizpapier mit Vögelchen und Rosen – ein Talisman an einer Halskette, ein winziges katholisches Gebetbuch. Und dann erzählt mir derselbe Junge, wie er „Kriegsfreiwilliger“ wurde (mit 17) – „ich wollte kämpfen und But sehen“. Als ich ihn verblüfft ansah, meinte er entschuldigend: „Ja, das haben wir in der Hitlerjugend gelernt und gesagt. Da wollte keiner zurückstehen und feige sein.“ Später, im Lauf seiner langen wirren Erzählungen: „Deutschland muß immer gewinnen, all die Opfer, das vergossene Blut, mein Blut, das kann doch nicht umsonst gewesen sein! Der Führer hat uns doch nicht verraten.“ Und dann wieder konnte er feststellen: „Die Menschen auf der ganzen Welt sind doch Brüder, oder?“ Und ich sagte: „Und das Blut, das du sehen wolltest, war es nicht das Blut von deinen Brüdern?“

Ewald Sch. geht es heute besser, kann ein paar Worte reden. Kommt aus Ostpreußen. Ob er wisse, daß es in russischen Händen ist? „Ja, aber das werden wir wiederbekommen.“ Er schafft es nur mühsam, seine Lippen zu bewegen und die Worte zu finden.

3. April

Saß bei Kurt Sch., der schreckliche Kopfschmerzen hatte. Ein anderer Deutscher saß mit auf seinem Bett. Ich setzte beiden ganz offen meine Ansichten auseinander, und sie waren aufmerksam, erstaunt, interessiert, zum Teil auch betroffen. Konnte ich wirklich deutsche Radiosendungen hören? Erklärte ihnen, was es heißt, in einem „freien“ Lande zu leben, unser parlamentarisches System und das Leben überhaupt.

5. April

Kurt Sch. mit Kopfschmerzen, matt und deprimiert. Er nimmt sich die Ereignisse in Deutschland sehr zu Herzen, glaubt die Nachrichten nicht – „Es kann nicht sein!“ ist seine Grundeinstellung. Danach ein recht langes Gespräch mit G., der neugieriger ist, nicht mehr so verbohrte Nazi-Positionen vertritt, allmählich besser Englisch versteht, BBC hört und Edgar Wallace liest. Redet immer noch unablässig von der „bolschewistischen Gefahr“, von Deutschlands Mission als „Bollwerk“ gegen Rußland. Warum muß alle Welt Deutschland hassen und bekämpfen? Ich merkte, daß ich ihm all das so schnell nicht klarmachen kann — was für eine Aufgabe!

6. April

Ewald Sch. ist jeden Tag klarer. Er glaubt, er wurde von deutscher Artillerie verwundet, die zu kurz zielte. Später wurde Gerhard Sch. an sein Bett gerollt, und sie konnten miteinander reden — die beiden 17jährigen.

8. April

Ewald Sch. immer noch akut gefährdet. Sprach ziemlich lange mit ihm. Er sei ein begeisterer Nazi-Junge gewesen. Wie er da lag, mit staunenden Augen, und ganz wie ein Kind, stellt man sich nicht unbedingt einen Nazi vor — und man spürt, daß diese Kinder fürchterlich betrogen wurden, daß man ihr Vertrauen und ihren jugendlichen Idealismus mißbraucht und irregeleitet hat.

12. April

Besuch bei Major Emil H. aus Gräfenheinichen/Halle, ein Mann von ca. 50 Jahren, der schon den letzten Krieg mitgemacht und damals eine Gasvergiftung erlitten hatte. Obwohl er Mittelschullehrer ist und über 45, hat man ihn in diesem Krieg wieder eingezogen! Kopfverletzung, die Sprache gestört, aber langsam wiederkehrend, in Gefangenschaft geraten als Flakoffizier in der Nähe von Bremen.

13. April

Wieder Emil H. besucht, er wollte viel über England wissen. Erzählte ihm über die Bombardierungen, den „Blitz“ usw. Wir sprachen lange über unsere Eindrücke von der deutschen Jugend. Er sagt, sie können nicht mehr denken, jede Entscheidung wird ihnen heutzutage abgenommen – also hören sie auf zu denken und eine Meinung zu haben. Er ist kein Nazi, hat keine der Nazi-Argumente oder Phrasen parat.

15. April

Zuerst bei Emil H., er fühlt sich ganz gut, hat keine Schmerzen, redet aber langsam, kann noch nicht jedes Wort aussprechen. Wahrscheinlich der Typ von Mensch, der selbst nie etwas Schlimmes getan hat, aber zu schwach, gutmütig oder phlegmatisch ist, um sich gegen das Böse zu erheben; aber vielleicht habe ich unrecht. Traf den Sanitätsoffizier — ob ich seinen POW gesehen hätte, ein „glühender Nazi“, spricht Englisch. Ich besuchte ihn, er heißt Heinz K., aus Wyrow/Oberschlesien, heute natürlich in russischen Händen. K., ein blasser, zerbrechlich wirkender Junge von 18 Jahren, mit dunkelblondem Haar, hat eine Rückenverletzung. Darauf angesprochen, ob er ein „Nazi“ sei, meinte er: „Mit der Partei mag nicht alles richtig sein, aber an den Führer glaube ich. Der ist ein guter Mensch.“

16. April

Bei Heinz K., versuchte in einem langen Gespräch, ihm einiges klarzumachen, ließ ihn wohl ein wenig verwirrt zurück. Noch so ein Junge, der nie etwas von irgendwelchen Greueltaten unter den Nazis gehört hat und der es in seinem eigenen Idealismus einfach nicht glauben will.

19. April

Heinz K. kommt morgen weg. Also hatten wir unsere letzte lange Unterhaltung. Er war zu Tränen erschüttert über die Zeitungsberichte und Bilder. Er sagte immer und immer wieder: „Das kann nicht wahr sein, deutsche Menschen können solche Dinge nicht tun“, und vergrub sein Gesicht im Kissen. Dann sagte er über Hitler, den Menschen: „Ich habe immer an den Führer geglaubt, ich hätte mich in Stücke reißen lassen für ihn.“ Und wieder: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das auf einmal für mich heißt. Noch vor 14 Tagen war ich in der Armee und habe nie an der Wahrheit des deutschen Rundfunks gezweifelt oder an dem, was uns gesagt wurde. Und auf einmal soll das alles nun falsch und unwahr und schlecht sein!“ Der Junge tat mir wirklich leid. Erzählte mir, daß sein Vater, ein „Oberstudienrat“, am Anfang gegen Hitler war, da „kaisertreu“. Später meldete er sich freiwillig zur Armee, mit 45 Jahren. Antisemitisch wurde die Familie, als die Großmutter in Cottbus, wo sie ein großes Geschäft hatte, nach dem Tod ihres Mannes den Laden an einen jüdischen Kaufmann übergab. Der hat dann offenbar Bankrott gemacht, brannte mit dem Geld durch und ließ eine antisemitische Familie zurück. Eine sehr typische Geschichte.

21. April

Als ich die Station verließ, sagte eine der [englischen; d. Red.] freiwilligen Betreuerinnen verbittert zu mir, vor allen anderen: „Warum kümmern Sie sich nicht um die Leute in Buchenwald?“ Das hat mich ganz schrecklich getroffen, ich konnte nur antworten: „Ich wünschte, ich könnte es.“ Die Gefühle sind in diesen Tagen sehr aufgewühlt, seit all die schrecklichen Dinge publiziert werden, die Bilder usw.

28. April

Adolf S. als einziger noch hier. Brachte ihm die neuesten Nachrichten: Einkesselung von Berlin, erster Kontakt zwischen amerikanischen und russischen Truppen aus Westen und Osten. Er kann es einfach nicht fassen, beginnt die POW-Zeitung zu lesen.

30. April

Der arme S. immer noch da. Berichte ihm die Neuigkeiten: Waffenstillstandsangebot von Himmler an die USA und Großbritannien zurückgewiesen, Mussolini hingerichtet, München gefallen usw. Er meint, es komme alles so schnell, er könne seine Ansichten und Einstellungen zu seinen „Führern“ noch nicht abschalten. Ich verstehe durchaus, was er meint. Er versichert aber, daß er jetzt versuchen will, an sich selbst zu denken und der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

2. Mai

S. endlich weg. Frage mich, wie er auf die Nachricht vom Tode Hitlers (gestern) reagiert hätte.

2. August 1946

Bekam heute endlich einen Brief von meinem „besten“ POW, Willi H. Ich hatte befürchtet, auch er sei gestorben. Er schreibt, daß er noch eine Rückgratoperation im Januar dieses Jahres hatte und daß man ihn damals fast schon abgeschrieben hatte, jetzt aber sei er wirklich auf dem Weg der Besserung. Das Gefühl in seinen Beinen kehrt zurück, es besteht die Hoffnung, daß er wieder laufen lernt.

5. August

Brief von Hans H. aus Duisburg; hat ein Auge verloren, will mir danken und schreibt, daß sie helfen wollen, ein besseres Deutschland wiederaufzubauen. Hofft, daß die SPD die bevorstehenden Wahlen gewinnt.