: Zum Abschluß die Marseillaise
Die letzten Tage des Präsidentschaftswahlkampfs in der französischen Provinz: Den eigentlich unbesiegbaren Jacques Chirac und den erstaunlich populären Lionel Jospin beobachtete ■ in Metz und Toulouse Dorothea Hahn
Krimimusik von den „Blues Brothers“ dröhnt durch die Messehalle. Hinten sind Dutzende von Stuhlreihen leer – vor der Bühne drängen sich fähnchenschwingende und „Chirac – Président“ skandierende Jugendliche. Der Kandidat schüttelt im Takt der ohrenbetäubenden Klänge die Hände von 35 Herren und einer Dame, die auf der Bühne im schrägen Winkel zu seinem modischen Rednerpult sitzen; unter ihnen auch ein kürzlich wegen eines Korruptionsverfahrens zurückgetretener Minister. Während der folgenden eineinhalb Stunden besteht ihre Aufgabe im Applaudieren und in der Abrundung des Bühnenbildes vor dem glänzend blauen Hintergrund.
Jacques Chirac, seit 1977 Bürgermeister von Paris und seit 1981 neogaullistischer Präsidentschaftsanwärter, hat Metz für seinen vorletzten Auftritt in diesem Wahlkampf ausgewählt. In der lothringischen Stadt, ein paar Kilometer von der deutschen Grenze entfernt – wo der Dialekt dem Letztelburgerischen ähnelt und die Hochöfen und der Kohleabbau stillstehen – ist der Kandidat im ersten Durchgang vor eineinhalb Wochen nur auf den vierten Platz gekommen. An die erste Stelle wählten die Lothringer den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen.
In Metz macht Chirac auf sozial und antisozialistisch. Auf seinen Kontrahenten in der Stichwahl am Sonntag, Lionel Jospin, drischt er ein, was das Zeug hält. Für alle Übel der Gegenwart macht Chirac die Sozialistische Partei verantwortlich: für die Arbeitslosigkeit, für die Bürokratisierung und für die illegale Einwanderung. Er lobt die kleinen und mittleren Unternehmer und verspricht, als Präsident „den Menschen in den Mittelpunkt“ zu stellen. Was er sonst noch vorhat, sagt er nicht. Den Namen „Le Pen“ erwähnt er nicht. Aber er macht einen langen Exkurs über das „berechtigte Bedürfnis nach Sicherheit“ und darüber, daß die Landesgrenzen besser gesichert gehören.
Arithmetisch besteht für Chirac in Metz überhaupt keine Gefahr, zu verlieren. Die Rechte hatte im ersten Wahlgang über 60 Prozent der Stimmen gemacht. Chiracs Sieg gilt als ausgemacht – egal, ob die militanten Rechtsextremen mitstimmen, die in letzter Zeit mehrfach in eine Arbeitervorstadt gegangen sind und türkische und nordafrikanische Jugendliche angegriffen haben.
Atmosphärisch ist Chiracs Auftritt in Metz trotzdem schwierig. Gleich bei seiner Ankunft finden sich ein paar Dutzende antirassistische Jugendliche ein und wünschen ihn mit lauten Slogans abwechselnd „auf den Müll“ oder „in eine Apfelplantage“ – jedenfalls ganz weit weg.
Tatsächlich sinken Chiracs Aussichten auf den bereits gewonnen geglaubten Elysée-Palast täglich. Sein Hauptgegner in diesen letzten Wahlkampftagen ist er selbst. Am Tag nach Metz kündigt Chirac ein neues Referendum über Europa für das Jahr 1996 an. Als Reaktion sinkt prompt der Wechselkurs des Franc – genau wie im November, zu Beginn von Chiracs langer Kampagne, als er verkündete, er wolle ein Referendum über die einheitliche Währung veranstalten. Damals zog er seinen Vorschlag schnell wieder zurück. Als weiteres Signal an die Klientel von Le Pen warnt Chirac am Freitag vor „Horden von Afrikanern“, die bei seiner Wahlniederlage nach Frankreich streben würden.
Chiracs liberalen und zentristischen Anhänger nehmen derartige Äußerungen mit Schaudern zur Kenntnis. Bei den Unterstützern von Jospin sorgen sie für Optimismus. In Toulouse, am anderen Ende Frankreichs, weist der sozialistische Kandidat auf die Unberechenbarkeit seines Kontrahenten hin. Jospin hat die Grenzregion zu Spanien, in Frankreichs Südosten, wo der Dialekt okzitanisch ist und die Wirtschaft immer noch funktioniert, für seinen letzten großen Wahlkampfauftritt gewählt. Die weit von Deutschland entfernte Region, in die Frankreich seine Rüstungsindustrie verlagert hat, und wo der Airbus gebaut wird, ist eine traditionelle linke Hochburg. François Mitterrand erzielte hier legendäre Wahlergebnisse und Jospin, der die Region im Parlament vertritt, gewann in Toulouse im ersten Wahldurchgang über 30 Prozent der Stimmen.
Zu seinem Auftritt sind an die 40.000 Menschen in das gigantische Festzelt gekommen. Jospin hat seine Frau, seine Mutter, seine Schwester und Martine Aubry mitgebracht, die bei seinem Wahlsieg gute Chance hätte, Premierministerin zu werden. Die Menge jubelt ihm zu, als er sagt, daß er einen Sieg am Sonntag für möglich hält.
Jospin spricht in Toulouse über Laizität, über das Frauenwahlrecht, das Recht auf Abtreibung und drückt seine Verachtung über die „Rückkehr von Antisemitismus und Rassismus“ aus. Minutenlang unterbrechen ihn seine Anhänger mit Slogans gegen Le Pen. Dann skizziert der Kandidat die Aufgaben seines Landes rund um das Mittelmeer, erwähnt den russischen Imperialismus in Tschetschenien und die Notwendigkeit eines definitiven Atomtest-Stopps.
Jospin, der im Februar als erster sozialistischer Präsidentschaftskandidat per Urabstimmung von einer großen Mehrheit der Parteibasis bestimmt wurde, macht seinen Wahlkampf allein – ohne Honoratioren auf der Bühne und ohne die Parteizentrale in Paris. Nach dem Absingen der Marseillaise läßt er sich von Jugendlichen auf der Bühne umringen. Auf ihren helltürkisgrünen T-Shirts steht: „Jospin, Präsident der echten Wende.“ Den knallroten Schal, den jemand neben ihm durch die Luft wirbelt, nimmt Jospin energisch weg.
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