Kempowskis „Echolot“ live

■ Heute: Sechs Stunden Szenische Lesung im Jungen Theater

„Echolot“ nennt man das Instrument, mit dem die unerreichbaren Tiefen der Meere erforscht und ausgelotet werden. Walter Kempowskis „Echolot“ wirft das Senkblei in die Abgründe der jüngsten deutschen Geschichte. Zum 8. Mai tritt das Junge Theater mit einer szenischen Lesung aus dem Echolot-Material die Reise in die Tiefen der Vergangenheit an. Den Kompass bei dieser Theaterfassung hielt Autor Walter Kempowski in der Hand. Er beriet die Bremer Theatergruppe um Regisseurin Brigitte Röttgers bei der Auswahl der Texte, die nun in einer sechstündigen Veranstaltung aufgeführt werden.

In der deutschen Literaturgeschichte hat das letztlich Unbegreifliche des Nationalsozialismus bislang keinen adäquaten literarischen Niederschlag gefunden, der große Roman über das III. Reich ist nie geschrieben worden. Kempowski machte schon seine Figuren in Romanen wie „Tadellöser und Wolf“ zu ratlosen Beobachtern. Jenseits aller sinnstiftenden Erklärungsversuch wählt der Autor in „Echolot“ nun den Weg des Dokumentaristen – und findet eine völlig neue literarische Form. Wo keine großen Thesen und Erklärungen das Phänomen des Nationalsozialismus im Roman zusammenzuhalten vermögen, hat „Echolot“ die Collage neu erfunden. Der Rahmen sind die 60 Tagen im Januar und Februar 1943, als die Schlacht um Stalingrad die entscheidende Wendes Krieg bringt. In diesen Ablauf dokumentiert und ordnet Kempowski die unterschiedlichsten schriftlichen Hinterlassenschaft der Zeitzeugen zu einem Mosaik der Absurdität, einer „Todesfuge aus Alltag und Apokalypse“. Aus Tausenden von Tagebüchern, Briefen, Klassenbüchern, Notizzettel, Reden und Zeitungsausschnitten, die sein Wohnhaus mittlerweile zu einem gewaltigen Archiv machen, hat Walter Kempowski eine Auswahl getroffen und nach einem ausgeklügelten Konzept arrangiert. Beim Lesen entsteht aus diesen unkommentierten O-Ton-Fragmenten die Absonderlichkeit des Alltags, wie sie nur die „Oral History“ dokumentieren kann: Neben dem unbeirrbaren Glauben eines Parteigenossen an den Endsieg, die heimischen Sorgen über rationierte Lebensmittel, der private Feldpostbrief eines jungen Soldaten und eine Mutter die sich um die Erziehung ihrer Kinder sorgt, wo die Schulen doch so oft geschlossen sind.

Im Jungen Theater hat man den Kraftakt zustande gebracht, dieses Konzept durchzuhalten, und zu einer szenischen Lesung zusammen zu stellen. Eine erste Lesung in Berlin mit prominenten Schauspieler wie Otto Sander, bei der nur aus KZ-Briefen gelesen wurde, hatte Kempowski stark kritisiert. Nicht etwa eine Spezialisierung auf einen Aspekt, sondern gerade die Vielfalt der Textsorten machen nun den Reiz, der unter Mitarbeit des Autors entstandenen Bremer Fassung aus. Sechs Stunden lang werden Schauspieler des Jungen Theaters und Gäste wie Jürgen Alberts, Stephan Maas und Karin Winkler aus „Echlot“ lesen. Damit die Mammutveranstaltung für das Publikum keine Strapaze wird, hat man eine offene Form konzipiert, bei der Kommen und Gehen erlaubt ist und sich jeder sein eigenes Programm zusammenstellen kann. Außerdem ist der Eintritt frei und im Foyer werden Getränke und ein Imbiß angeboten.

Susanne Raubold

„Echolot“ nur heute 17.00 - 23.00 Uhr im Jungen Theater, Friesenstraße 16/19. Eintritt frei!