Tabula rasa

Eine zweite Dolchstoßlegende ist uns erspart geblieben. Vom Segen der Niederlage  ■ Von Christian Semler

Menschen mit einem Faible fürs Historische sind stets in Gefahr, eine Entwicklung im nachhinein nur deshalb für zwangsläufig zu halten, weil sie nun mal eingetreten ist. Zwischen der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 und der allmählichen Herausbildung demokratischer Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland besteht zweifellos ein Kausalnexus. Fragt sich nur, welcher. War das erste Ereignis, die Niederlage Hitlerdeutschlands, die notwendige Bedingung für den Eintritt des zweiten, die Demokratisierung der westlichen Hälfte Deutschlands in den auf 1945 folgenden Jahrzehnten?

Ich glaube, ja.

Der 8. Mai 1945 zerstörte nicht nur ein Herrschaftssystem, sondern widerlegte auch praktisch eine Ideologie, deren Kernbehauptung gewesen war: Das Lebensrecht der stärkeren Rasse setzt sich durch. Für Hitler war die Konsequenz aus dieser Widerlegung klar. Die Deutschen hatten ihn enttäuscht, sich als zu schwach erwiesen, mochten sie ruhig untergehen. Aber der Selbstmord des Führers diente nur ein paar tausend Getreuen als Vorbild. Der Rest zog es vor, den Kopf einzuziehen und weiterzuleben.

Ein Vergleich zur Zeit nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ist hier instruktiv. Die deutschen Truppen hatten damals die Waffen zu einem Zeitpunkt gestreckt, als sie durchwegs noch auf „Feindesterritorium“ standen. Ins Reich zurückbeordert wurden sie von der revolutionären Regierung in Berlin, von den „Novemberverbrechern“. Die waren es auch, die das „Diktat von Versailles“ unterzeichneten. Aus diesen drei Ingredienzien wurde die Dolchstoßlegende fabriziert, eine Erfindung, die in ingeniöser Weise den Bankrott der kaiserlichen Machteliten verschleierte und zugleich Haß und Enttäuschung auf einen neuen Feind lenkte. Eingebildetes Märtyrertum, Verfolgungsängste, übersteigertes Selbstbewußtsein und zunehmender Realitätsverlust verdichteten sich zu einem Syndrom, dem der ungarische Soziologe Istvan Bibo den Namen „deutsche Hysterie“ gegeben hat.

Für die geschlagenen Deutschen stand 1945 keine neue Dolchstoßlegende zur Verfügung. Immerhin gab es den toten Hitler und seine Paladine. Von ihnen durfte man sich nun verraten, in seinem „Idealismus“ mißbraucht fühlen. Sie waren die Alleinverantwortlichen, aber das deutsche Volk mußte büßen. Diese praktischen Lebenslügen wurden in weinerlich-resignativem Tonfall vorgebracht, wie auch den Aufrechnungen (Auschwitz gegen Dresden) der agressiv-triumphierende Unterton fehlte. Widerstand gegen Maßnahmen der westlichen Besatzungsmächte regte sich fast nirgends. Auf die Apathie folgte das Delirium des Wiederaufbaus. Die „skeptische Generation“ absolvierte ein nachträgliches, eiliges Studium, widmete sich der Berufskarriere und war fest entschlossen, sich für den Rest des Lebens von politischen Extravaganzen und unbequemen Fragen fernzuhalten.

Erst wurden die demokratischen Institutionen nur hingenommen, als alliiertes Zwangsgeschenk. Dann dienten sie der Akklamation eines cleveren steinalten Politikers, der den westlichen Deutschen unverhofft schnell zu einem Platz an der Seite der westlichen Demokratien verhalf. Die autoritären Fesseln der Nachkriegsdemokratie lockerten sich schließlich in den sechziger Jahren – Folge der nachlassenden Systemkonfrontation, der lang anhaltenden Konjunktur. Trotz der Notstandsgesetze schwenkte die Entwicklung der demokratischen Institutionen auf eine Linie ein, in der ältere Traditionen des deutschen Liberalismus sich mit Impulsen westlichen, speziell amerikanischen Verfassungs- und Grundrechtsverständnisses vereinten. Es war gerade die Generation der 68er, die, ihrer antidemokratischen Rhetorik zum Trotz, das Jeffersonsche Recht auf Revolution für jede neue Generation ernst nahm und die Universalität der Menschenrechte gegenüber einem abstrakten Freiheitspathos einklagte, der nur der Verschleierung imperialer Interessen diente. Erst als sich das Lebensgefühl dieser Generation durchsetzte, war die Bundesrepublik „im Innern“ verwestlicht. Seit 1848 bestand für einen Teil Deutschlands zum ersten Mal die Chance demokratischer „Normalität“.

Zu fragen: „Was wäre gewesen, wenn?“ ist den Liebhabern der Geschichte verboten. Zu viele Unwägbarkeiten, um eine alternative Kausalkette zu konstruieren. Trotzdem: Welche Schicksale hätte die Demokratie in Deutschland erwartet, wenn der Nazismus nicht bis zur Neige von den Deutschen ausgekostet worden wäre? Hunderttausende Juden wären gerettet worden, hätte die Verschwörung des 20. Juli gesiegt, und das Leben ungezählter Soldaten und Zivilisten dazu. Nichts aber berechtigt uns, im Juli 1944, nach der Landung der Amerikaner und Briten in der Normandie, zu der Annahme, die Alliierten wären gegenüber einer neuen Reichsregierung von ihrer Forderung nach bedingungsloser Kapitulation abgegangen, die Westmächte hätten einen separaten Waffenstillstand mit Deutschland geschlossen, die sowjetische Armee hätte nicht weiter nach Westen vordringen können etc. Deutschland hätte auch nach dem Sieg der Militärverschwörung nach allen Seiten kapitulieren müssen. In der Person des Reichskanzlers Goerdeler wäre den entmachteten Nazis ein neuer „Juliverbrecher“ zur Hand gewesen und der Dolchstoßlegende wäre neues Leben eingehaucht worden.

Als womöglich noch folgenreicher hätte sich die Tatsache erwiesen, daß die Verschwörer des 20. Juli zum Großteil aus einem tiefverwurzelt autoritären, anti- und vordemokratischen Antrieb heraus handelten. Selbst die „westlichsten“ unter ihnen, etwa der „Kreisauer“ James von Moltke oder Adam von Trott zu Solz, konzipierten ihre Vorstellungen als Alternativmodelle zum Parlamentarismus, schirmten sich „gegen ein pragmatisches Politikverständnis ab, das von der Existenz und der Notwendigkeit antagonistischer gesellschaftlicher Interessen ausging“ (Hans Mommsen). In seiner Denkschrift „Deutschland zwischen Ost und West“ schrieb Adam von Trott zu Solz: „Deutschland ist – wie ganz Europa – durch raumfremde Mächte des Ostens wie des Westens bedroht: durch die Sowjets und die Amerikaner. Das künftige Reich benötigt eine eigene kulturelle Identität aus den Kräften der Heimat und aus einer spezifisch deutschen Gesinnung (...) Deutschland darf sich weder für den Westen noch für den Osten entscheiden!“

Es war exakt dieses Denken in den Kategorien der Geopolitik, das Beharren auf dem dritten, dem deutschen Weg, die Entgegensetzung von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation, das die Brücke zwischen den Konservativen und den Nazis geschlagen hatte. Die Besatzung Deutschlands und die „Verwestlichung“ der Bundesrepublik haben dieser Denkungsart weitgehend die Grundlage entzogen. Unter der Herrschaft der Männer des 20. Juli wäre sie zum Bestandteil deutscher Staatsdoktrin erhoben worden.

Die Westintegration der Bundesrepublik, vollzogen auf der Tabula rasa des Jahres 1945, entsprach nicht nur überwältigenden materiellen Interessen, schuf nicht nur eine spezifisch deutsche Europäisierung als Verarbeitungsform der Niederlage, sie veränderte auch entscheidend die Alltagserfahrungen. Deutschlands Vereinigung hat, trotz mancher deutsch- kulturkonservativer Obertöne der alten DDR-Intelligenz, daran nichts Grundsätzliches geändert. Es stimmt, Anzeichen für eine Distanzierung von der „einseitigen“ Bindung an den Westen mehren sich heute und es gilt, sie zu brandmarken. Aber der neue Nationalismus in Kreisen der rechten Intelligenz ist kraftlos, es gelingt ihm nicht, die historische Tendenz umzukehren. Der Angriff auf universalistische Orientierungen kommt woandersher. Er speist sich aus der Abschottung des reichen Europa gegenüber den Zumutungen durch die arme Welt, aus der Ideologie des (west-)europäischen Pfahlbürgers. Das ist das neue Terrain der Auseinandersetzung.