■ Notizen einer 17jährigen zum Kriegsende in Berlin
: Ich nicht, Mutti ja

30. 1. Rede von Adolf Hitler. Abends Strümpfe gestopft.

1. 2. Papa zum Volkssturm. Alarm. Bis nachts 1/2 12 Uhr gearbeitet.

6. 2. Alarm. Papa befreit von Stadtwacht. Mit Mutti im Kino: Frau meiner Träume.

9. 2. Strippentasche angefangen. Ein Deckel ziemlich fertig. Alarm!

13. 2. Alarm! Strippe gefärbt. Täglich 3mal 2 Stunden kein Licht.

14. 2. Alarm! Volkssturm steht bereit. Barrikaden werden gebaut.

15. 2. Alarm. Auf dem Viehhof die letzte Kiste Schmalz bekommen.

16. 2. In 2 Stunden 2 Zentner Sauerkohl verkauft.

25. 2. Mutti und Margit sind krank.

3. 3. Mein Geburtstag. Alarm!

4. 3. Geburtstag gefeiert. Herrlich! Nachts 2 Uhr Alarm!

5. 3. Fliegeralarm! Zwischenstück der Tasche angefangen.

8. 3. Alarm! Erste Tasche fertig.

11. 3. Alarm! Schwerer Angriff. Treffer vor die Kirche. Der kleine Uwe Sch. ist an Erkältung gestorben. Zweite Tasche angefangen.

12. 3. Alarm! Gewaschen, geplättet, gerollt usw.

13. 3. Alarm!

14. 3. Alarm! Matratzen geklopft.

15. 3. Alarm!

18. 3. Ausgebombt! Gerettet!

19. 3. Haben in Gastwirtschaft auf dem Fußboden geschlafen. Mutti und Kinder zu Tante Eka. Margit ist krank.

20. 3. Nähmaschine ausgebuddelt. Schlafen bei T. Eka

21. 3. 18. Hochzeitstag meiner Eltern. Fliegeralarm! Wagen mit geretteten Sachen zu T. Eka gefahren. Papa kommt nicht vom Volkssturm bzw. Stadtwacht frei.

23. 3. Alarm! Gebuddelt. Im Schutt 50,- RM gefunden. Abgegeben.

25. 3. Alarm! Mit Mutti und Papa neue Wohnung saubergemacht. 100,- RM sind uns aus der Brieftasche gestohlen worden.

28. 3. Alarm! Sachen gepackt. Kartoffeln sind aus dem Keller gestohlen worden.

19. 4. Alarm! In Jagowstr. gebuddelt. Hören schon das Schießen.

20. 4. Alarm! Wenig Wasser, kein Strom, bei Fliegerangriffen ertönen keine Sirenen mehr.

21. 4. Zur Jagowstr. fährt keine Bahn mehr.

22. 4. Schlafen jetzt im Keller. Russen sind in Berlin. Onkel Willi ist geflüchtet und zu uns gekommen.

23. 4. War in Jagowstr. mit Onkel Willi. Habe Papa besucht. Hatte von seiner Schnapsration einen Schwips.

25. 4. Kein Wasser! Kein Gas! Kein Licht!

27. 4. Feind bis Kaiserplatz

29. 4. Das Kochen ist sehr erschwert wegen dauernder Lebensgefahr, wenn man den Keller verläßt.

30. 4. War bei Bombeneinschlag mit Frau B. oben an der Treppe zum Keller. Die Russen sind da. Sie sind total besoffen. Nachts Vergewaltigungen. Ich nicht, Mutti ja. Manche 5–20mal.

1. 5. Russen gehen ein und aus. Alle Uhren sind weg. Die Pferde liegen auf dem Hof auf unseren Betten. Die Keller sind aufgebrochen. In die Stubenrauchstraße 33 geflohen.

2. 5. Erste Nacht Ruhe. Haben geweint, als wir den blühenden Flieder auf dem Hof entdeckt haben. Alle Radios müssen abgegeben werden.

3. 5. Noch in der Stubenrauchstr. Darf nicht ans Fenster, damit mich kein Russe sieht. Überall sollen Vergewaltigungen sein.

4. 5. In der Derfflingerstr. keine Nachricht von Papa erhalten.

6. 5. Unser Haus hat 21 Treffer. Den ganzen Tag geräumt und gepackt. Nachts Sturm. Bin vor Angst, daß die Russen kommen, unters Bett gekrochen. Aber das Haus hatte nur durch den Beschuß so geklappert.

7. 5. Straße frei geschippt. Nummern für Brot geholt, aufgeräumt.

8. 5. Straße geschippt. Nach Brot angestanden. Nachricht, daß Papa lebt.

9. 5. Waffenstillstand. Für Margit gibt es Milch.

10. 5. Aufgeräumt.

Liselotte G. hat nur einmal in ihrem Leben Tagebuchnotizen gemacht: 1945 in einen kleinen, in grauen Pappkarton gebundenen Taschenkalender. „Für Gefühle war da kein Platz“, sagt sie, dazu seien die Zeilenabstände zwischen den Tagen zu klein gewesen.

Aus: Ingrid Hammer, Susanne zur Nieden (Hrsg.): „Sehr selten habe ich geweint. Briefe und

Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin“. Schweizer Verlagshaus