■ Der Schriftsteller Dieter Wellershoff über Gefahren im Krieg, Träumereien und Tendenzen von Schuld
: Langsam beginnt das Vergessen

Dieter Wellershoff kam 1944 mit 18 Jahren an die Front. Seine Kriegserlebnisse hat der 69jährige Romancier und Literaturtheoretiker erst jetzt in einem autobiographischen Buch mit der gleichen Detailschärfe aufgeschrieben, für die sein fiktionales Werk berühmt ist. „Der Ernstfall“ ist in diesem Frühjahr der einzige Roman eines bekannten deutschen Schriftstellers zum Kriegsthema.

taz: Herr Wellershoff, Sie sind mit literarischen Arbeiten bekannt geworden, die den Ernstfall eher im gewöhnlichen Leben suchen, im Herausfallen aus den gewöhnlichen Bezügen...

Dieter Wellershoff: ...Krisensituationen...

... und den Folgen, die das für die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Protagonisten hat. Nun haben Sie das Buch „Der Ernstfall“ geschrieben, das den Ernstfall in der Ausnahmesituation des Krieges aufspürt.

Der Titel bezieht sich auf die pubertären Phantasien, die wir damals als Jungens gehabt haben – Krieg als Heldentum, Krieg als Abenteuer. Ich hatte damals Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg verschlungen, und das Nahen des Krieges war dann ein Näherrücken der Wirklichkeit an den Phantasieraum. In jener Entwicklungsphase, in der man als Jugendlicher mit dem reinen Phantasieren aufhört und mehr wirklichkeitsbezogene Betrachtungsweisen ausprobiert, rückte mir der Krieg näher und wurde das Modell. Der wirkliche Krieg aber war dann etwas ganz anderes, daher der Titel „Ernstfall“.

1943 war der Krieg aber doch bereits kein Feld für abenteuerliche Phantasien mehr?

Ich bin eigentlich mit dem Gefühl, in etwas ganz Finsteres und Unabsehbares hineinzukommen, in den Krieg gezogen. Ich hatte noch heimlich in der BBC die Nachricht über die Kapitulation des Afrika-Corps gehört, und das hatte mich bis ins Tiefste hinein getroffen. Gerade der Umstand, daß man diese Nachrichten im Geheimen erlauschen und dann in sich vergraben mußte, gab ihnen einen besonderen Wahrheitswert. Ich hatte also das Gefühl, jetzt beginnt etwas Finsteres, aber ich habe nicht in Frage gestellt, daß auch ich wie alle anderen gehen mußte. Der Krieg ist in Ihrem bisherigen Werk kein wichtiges Motiv. Die Detailschärfe Ihrer Erinnerung in dem neuen Buch spricht aber dafür, daß die Sache Sie beschäftigt haben muß. Haben Sie mit Ihren Erfahrungen sich in jener Kriegsliteratur wiedergefunden, die ja eine ganze Weile die bundesrepublikanische Literatur geprägt hat?

Nein, sie stand zu sehr unter dem moralischen Bewältigungsdruck, als daß sie phänomenologisch sein konnte, wie ich mir das vorstellte. Als ich zum Schreiben gekommen bin, war die Kriegsliteratur schon geschrieben, von Böll, Bender, Plievier, den älteren Leuten der Gruppe 47. Als Student habe ich zwar unter dem Einfluß von Wolfgang Borchert auch einige Kriegsgeschichten geschrieben, aber das war eine geliehene Sprache, und ich merkte dann auch, dieses Pathos – Borcherts „gibt denn keiner Antwort“ –, das war nicht meine Stimmlage. Ich hätte ihm gleich sagen können, daß keiner Antwort gibt.

Ihr Buch, scheint mir, wäre in den sechziger, siebziger Jahren so noch nicht denkbar gewesen.

Ich selber hätte es jedenfalls nicht schreiben können. Aber auch objektiv wäre es wohl befremdlich erschienen, daß jemand so viel Distanz aufbringen kann, um wieder so nahe heranzugehen.

Das am häufigsten wiederkehrende Merkmal der Fronterfahrungen, die Sie beschreiben, ist die Dissoziation der Wahrnehmung. Als Sie verwundet werden, heißt es: „Eigentlich schrie mein Körper an meiner Stelle.“

Als ich von einem Granatsplitter getroffen worden war, merkte ich, daß ich einen Wutschrei ausgestoßen hatte, so als wäre ich von jemandem getreten worden, eine völlig unangemessene Reaktion. Ein anderer Faktor ist die dauernde Übermüdung. Man sackt, während man noch in Todesgefahr ist, ab in Träumereien. Man befindet sich in einer seltsam abgetrennten Gegenwart, die Vergangenheit bedeutet nichts, eine Zukunft kann man sich nicht vorstellen. Es herrscht dort eine Art konkretistische Blindheit.

Ist dieser Ausnahmezustand, diese permanente Gegenwart, einer bestimmten Form der literarischen Wahrnehmung verwandt?

Ja, die Durchbrechung des Kontinuums der bekannten Welt, wenn man aus der Bahn geworfen wird, wenn etwas eintritt, das ambivalent ist, das sind die Momente, die mich auch später im zivilen Leben interessiert haben.

Die „Literatur der Bestandsaufnahme“ der späteren Bundesrepublik, wie den von Ihnen geprägten „Kölner Neuen Realismus“, konnte man als später Geborener für eine durch und durch zivile Angelegenheit halten. Wenn man nun Ihr Buch liest, kommt einem der Gedanke, daß ein bestimmtes Interesse dieser Literatur, ein bestimmter Blick, von der Kriegserfahrung her kommt.

Das kann schon sein. Man wird ja doch sehr geprägt durch solche Erfahrungen wie die Zufälligkeit, die Gefährdetheit des Lebens, die Plötzlichkeit, den absoluten Vorrang des Körperlichen.

Sie haben einmal in den sechziger Jahren in einem Pamphlet gefordert, die Literatur solle dazu dienen, „die ursprüngliche Fremdheit zurückzugewinnen“.

Richtig, das ist im Krieg ja der normale Zustand.

Verändert es das Verhältnis zur eigenen Angst, wenn man jemanden überlebt, wie es Ihnen ja auch mit Freunden passiert ist, die Sie haben sterben sehen?

Als ich einmal jemanden habe sterben sehen, habe ich wahnsinnige Kopfschmerzen bekommen, so daß ich mich nicht mehr situationsgemäß verhalten konnte. Ich bin ungedeckt durch die Schußzone gewankt. Der Kopfschmerz war in diesem Moment realer als die Todesgefahr des Sperrfeuers. Der Körper hatte die richtige Antwort gefunden, Angstgefühle habe ich dabei nicht verspürt.

Nachdem Sie bei einem militärisch völlig sinnlosen Angriff, in dessen Verlauf Sie verwundet wurden, den Glauben an die militärische Führung eingebüßt hatten – was blieb da noch, an das Sie sich halten konnten?

Mehr und mehr hat sich bei mir alles auf die Einstellung reduziert: „Schau es dir an, jetzt bist du mittendrin, du bist ein Zeuge.“

Wie wird man nach solchen Erlebnissen zu einer zivilen Person?

Das hat lange gedauert. Wir haben lange so eine kriegsmäßige Kleinkriminalität weiter gepflegt. Man nahm sich einfach, was man konnte, richtig gezähmt war man noch nicht. Auch äußerlich war diese Gesellschaft damals eine Übergangsgesellschaft, denn wir alle trugen ja lange Zeit noch Teile von Militärkleidung.

Wann hatten Sie das Gefühl, der Krieg sei etwas Abgeschlossenes und Sie in einem neuen und anderen Zustand angekommen?

Während meines ganzen Studiums hatte ich keine Vorstellung von einem bürgerlichen Leben als Ziel. Da war immer noch dieses Momentane, Sprunghafte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich genötigt sein würde, eine Existenz aufzubauen. Ich dachte, ich würde mich schon irgendwie durchschlagen, das war damals die Mentalität.

Erinnern Sie den 8. Mai 1945?

Nein, überhaupt nicht, das ist für mich ein völlig gestaltloser Tag gewesen. Für mich war der Krieg wegen meiner Verletzung schon länger aus, allerdings war ich in Gefangenschaft geraten, also lebte ich in einer Art Zwischenzustand.

Wie ist Ihnen zumute bei den Gedenkfeiern zum Kriegsende, angesichts der Leitartikel und mächtigen Symbole, die überall aufgefahren werden? Haben Sie das Gefühl, daß die Symposien und Talk- Shows irgend etwas von Ihren Erfahrungen fassen?

Ich habe das Gefühl, diese Gesellschaft hat die Ahnung, daß sie sich bald von all diesen Dingen abwenden wird, und daß sie das nur mit großen Schuldgefühlen tun kann. Und daß sie etwas von den Schuldgefühlen abträgt, indem sie sich jetzt noch einmal damit konfrontiert, also sozusagen die vorweggenommenen Schuldgefühle des beginnenden Vergessens abarbeiten will. Interview: Jörg Lau

Dieter Wellershoff: „Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 336 Seiten, 39,80 Mark