Motorisches Reality-Kondensat

■ Wildenhain-Uraufführung im Berliner Ensemble: Thomas Heise inszenierte Szenen über rechte Gewalt mit Kindern

Elf Kinder kommen nacheinander auf die Bühne. Sie stellen sich an der Rampe auf. Sie tragen Hemd und Hose, Rock und Bluse, Stiefel, manche auch Mantel und Hut, alles in Blaugrau. Dann verteilen sie sich auf der schrägen Spielfläche und zeigen eine Situation in der S-Bahn. Drei mit Schlagstöcken stülpen einem eine Papiertüte über den Kopf, prügeln ihn, stoßen ihn nieder. Die anderen wechseln gelegentlich die Plätze, sehen weg. Schließlich will einer mit einem Messer helfen und wird selbst niedergestochen. Der auf dem Boden hebt die Hand zum erzwungenen Hitler-Gruß.

Später vögeln ein Junge und ein Mädchen unter der Bettdecke und sprechen über Antifa-Aktionen. Ein weiteres Pärchen, in Dirndl und Lederhose, tötet einen Obdachlosen, während die anderen zuschauen und mit dünnen Stimmen fragen: „Wer seid ihr? Doch nicht die Kinder, denen wir Spielzeug aus Holz geschenkt haben?“

Unter dem Titel „Im Schlagschatten des Mondes Hänsel und Gretel“ inszenierte Thomas Heise zwei Stücke von Michael Wildenhain, in die er noch Szenen aus „Ins Offene“ montierte, dem dritten Stück von Wildenhains Gewalt- Trilogie. In dieser Form ist es eine Uraufführung, mit der der durchaus schon renommierte Berliner Dramatiker auch erstmalig an einem großen Berliner Theater gespielt wird: im Berliner Ensemble.

Acht- bis dreizehnjährige Kinder spielen eine Erwachsenenwelt, die auch die ihre ist. Sie sprechen dabei eine Sprache, die von ihrer eigenen wohl mehr als nur ein paar Schulklassen entfernt ist. Wildenhains Texte sind meist Kommentare, analytische Lagebeschreibungen, die gern ins Wissenschaftliche tendieren, wenn es etwa um den Prozeß der Verbrennung menschlicher Haut geht. Durch die Insistenz und Detailgenauigkeit stellt sich ein merkwürdiges Pathos her, das wie tiefgefroren wirkt, schockgefrostet – nicht die Figuren scheinen zu sprechen, sondern eine Wildenhainsche Wirklichkeitsreproduktionsmaschine spricht aus ihnen. Heise parzelliert den Text

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rhythmisch zusätzlich, setzt auch Chöre ein und gibt dem laienhaften Sprechen der Kinder dadurch eine Form, die irrwitzigerweise wieder natürlich wirkt. Die übliche graphische und reduzierte Ästhetik des Regisseurs wird von den Kindern mit einer Selbstverständlichkeit spielerisch ausgefüllt, die viel mit Training zu tun hat, aber nichts mit ambitionierter Schülerkunst.

Es geht nicht um Psychologie und nicht um persönliche Erfahrung. Die Kinder sprechen vom „Ficken“, und es ist völlig gleichgültig, ob sie es bereits getan haben. Diese Inszenierung heischt nicht nach einem „Niedlichkeitsbonus“, auch wenn einige Eltern im Parkett aus Unsicherheit ab und zu bei Szenenwechsel anfeuernd johlten. Das wäre nicht nötig gewesen. Wenn die Inszenierung schlecht wäre, hätte das nichts geholfen. Sie ist aber gut. Es geht um Gewalt und wie sie sich vollzieht. Und es geht um Ohnmacht. Beides wird schlicht konstatiert. Mit ausdruckslosem Gesicht steht etwa Romy Flotow als Skin hinter dem S-Bahn-Opfer und zieht ihn an den Schultern hoch, damit der Gruß besser gesehen werden kann. Dann wirft sie ihn über die Rampe nach unten. Als Refrain zieht sich die S-Bahn-Szene durch die Aufführung: ein motorisches Reality- Kondensat.

Am Ende verwandelt sich die Bühne in eine Disco: Stroboskoplicht, moderate Techno-Beschallung wird übergeblendet in „Tanz den Adolf Hitler“ von DAF. Und die Kinder tanzen wild, nachdem sie sich zuvor rhythmisch und doch scheinbar unchoreographiert eine Sequenz lang angerempelt hatten. Und die Moral von der Geschicht'? Die gibt es nicht. Petra Kohse

Nächste Aufführungen am 10./11.Mai, Berliner Ensemble