Soziale Atomisierung beklagen

... aber individuelle Selbstentfaltung begrüßen: Der Soziologe Dieter Rucht sieht die „neuen sozialen Bewegungen“ als Produkte und zugleich Produzenten der Modernisierung / Liegt ihre Zukunft in individuellen Aktionen?  ■ Von Christian Rath

Die Arbeiterbewegung ruft schon lang keine linken Umwälzungsphantasien mehr hervor. An ihre Stelle traten seit Ende der sechziger Jahre immer mehr die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“, also Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung, Dritte-Welt-Solidarität und andere mehr. Sicher wird ihnen niemand, wie einst der Arbeiterbewegung, revolutionäre Potenz unterstellen. Aber Revolutionen gelten in der Linken heute ohnehin mehrheitlich als unterkomplexes Mittel für überkomplexe Problemstrukturen.

Dagegen sind die „neuen sozialen Bewegungen“ als Orte grundsätzlicher Kritik und zivilgesellschaftlichen Diskurses immerhin für die späte RAF genauso Hoffnungsträger geworden wie für den späten Habermas – mit durchaus unterschiedlichen Hintergedanken, versteht sich.

Ob aber Gesellschaft immer das „Produkt“ sozialer Bewegungen ist, wie es der französische Soziologe Alain Touraine postulierte, soziale Bewegungen also die zentralen „Beweger“ der Geschichte wären – das ist unter Sozialwissenschaftlern recht umstritten. Andere sehen sie eher als eine bloße Gegenreaktion angesichts gesellschaftlicher Umbrüche.

Der Politologe Dieter Rucht, seit über zehn Jahren als „Bewegungsforscher“ renommiert, versucht sich derlei griffigen und (allzu) einfachen Deutungsmustern zu entziehen. Die These seines umfangreichen Werkes über „Modernisierung und neue soziale Bewegungen“: In einer Doppelperspektive sind Bewegungen gleichzeitig „Produkt und Produzent von Modernisierung“.

Gerade in den „neuen sozialen Bewegungen“ sieht Rucht ein gutes Beispiel für die Ambivalenz gegenüber Modernisierungsströmungen: „Funktionale Differenzierung wird zurückgewiesen, aber an ihren Leistungen soll festgehalten werden, soziale Atomisierung wird beklagt, aber individuelle Selbstentfaltung begrüßt.“

Trotz dieses psychologischen Double-binds verortet Rucht die „neuen sozialen Bewegungen“ aber doch eindeutig im Lager der Moderne. Einerseits trieben sie die Ich-Zentrierung weiter, etwa im Rahmen der Emanzipationsbewegungen von Frauen und Homosexuellen.

Andererseits habe der Konflikt um die Atomenergie gezeigt, daß die ursprünglich als Fortschrittsgegner Gescholtenen letztlich die eigentlich energiewirtschaftlichen Modernisierer sind. Daneben verhalf gerade die Anti-Atom-Bewegung auch politischen und soziokulturellen Innovationen zum Durchbruch, etwa der Forderung nach stärkerer Folgenorientierung technischer Eingriffe, mehr Entscheidungstransparenz, Ausweitung der Bürgerbeteiligung und Etablierung einer kritischen „Gegenwissenschaft“. Für soziale Bewegungen der politischen Rechten mag die Bilanz anders aussehen, aber mit diesen beschäftigt sich Rucht nur in vereinzelten Nebensätzen.

Spannend zu lesen ist Ruchts Wälzer immer dann, wenn er tief in das empirische Material über einzelne Bewegungen einsteigt, deren Geschichte, Erfolge und Mißerfolge nachzeichnet und aus den Ergebnissen theoretische Schlüsse zieht. Rucht warnt dabei jedoch vor der „Illusion“, das politische Gelingen oder der Fehlschlag von Bewegungen sei mit wissenschaftlichen Mitteln zu prognostizieren. Seine Fallstudien aus der Geschichte der Frauen- und Umweltbewegung (ländervergleichend in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik untersucht) spüren gerade der Bedeutung erst nachträglich sichtbar gewordener Sonderbedingungen oder zufälliger Ereignisse nach. Welch entscheidende Rolle etwa externe Rahmenbedingungen haben können, zeigt Rucht am Beispiel der desaströs gescheiterten französischen Anti-Atom-Bewegung.

Das elitär ausgerichtete und eher in sich geschlossene politische System Frankreichs reagierte gegenüber dem Anti-Atom-Protest so konfrontativ, daß dessen Radikalisierung auf dem Fuße folgte. Als es den am Atomkonsens orientierten Kräften im Jahr 1977 sogar gelang, den AtomkraftgegnerInnen in der Öffentlichkeit die Schuld für einen Todesfall bei der bislang größten Demonstration am Brüter-Standort Malville zuzuweisen, zersplitterte sich die Bewegung und blieb im folgenden weitgehend wirkungslos. Ganz anders die Situation in den USA, deren marktorientierte Energiewirtschaft kaum Möglichkeiten einer direkten oder indirekten Lastenabwälzung auf den Staat besaß. Hier reagierte man auf den kostentreibenden Protest, der angesichts des offeneren politischen Systems ohnehin mehr Wirkung erzeugen konnte, indem man die Atomenergie bereits relativ früh faktisch zur Übergangslösung erklärte.

Daß auch ein überraschend früher und unverwässerter Bewegungserfolg problematische Folgen zeitigen kann, zeigt Rucht anhand der US-amerikanischen Auseinandersetzung um die Kriminalisierung der Abtreibung. Im Jahr 1973 ordnete nach zehnjährigem Engagement von Frauen- und BürgerInnenrechts-AktivistInnen der Supreme Court, das oberste Gericht, eine sehr weitgehende Liberalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung an. Erst hierdurch wurde eine massive Gegenmobilisierung der AbtreibungsgegnerInnen ausgelöst; eine machtvolle „Pro Life“-Bewegung entstand. Als die ReformbefürworterInnen mit einer ebenso mobilisierungsfähigen „Pro Choice“-Bewegung konterten, eskalierte der Konflikt. Militante Abtreibungsgegner schrecken inzwischen auch vor gezielten Morden nicht mehr zurück. Eine breiter getragene Kompromißlösung wie in der Bundesrepublik oder in Frankreich hätte eine derartige Zuspitzung des Konflikts wohl erst gar nicht entstehen lassen, stellt Rucht nüchtern fest.

Zu den Perspektiven der „neuen sozialen Bewegungen“ enthält Rucht sich jeden Kommentars. Mit dem stetigen Anwachsen des Dienstleistungssektors und der Zahl der dort beschäftigten „neuen Mittelschichten“ könnte ihr Potential aber durchaus noch wachsen. Die nicht zu übersehenden Ermüdungserscheinungen mancher Bewegungen, etwa der Friedensbewegung, werden jetzt schon durch das Aufkommen neuer Bewegungen konterkariert, auch wenn diese von den Bewegungsforschern (Rucht selbst eingeschlossen) noch kaum als solche thematisiert werden.

Zu nennen sind etwa die Antifa oder die Gruppen der Flüchtlingshilfe. Andererseits dürfte die zunehmende Individualisierung eine organisierte Einwirkung auf gesellschaftliche Prozesse nicht gerade fördern. Vielleicht wird sich dieser Widerspruch im Hinblick auf individuellere Protestformen wie den gezielten Konsumentenboykott auflösen. In den USA als dem Mutterland des Individualismus waren derartige Boykott-Aktionen ja meist erfolgreicher als bei uns. Auch die Versuche, „ethisches Investment“ zu betreiben, könnten in diese Richtung weisen.

Dieter Rucht dürfte gegenüber derartigen Prognosen jedoch zu Recht skeptisch bleiben. Sein Credo lautet: „Bewegungen bleiben in ihren Formen und Resultaten für Überraschungen gut. Eine anspruchsvolle, aber nicht vermessene Bewegungswissenschaft kann bestenfalls nachträglich erklären, wieviel davon wirklich überraschend war.“

Dieter Rucht: „Modernisierung und soziale Bewegungen“. Campus Verlag, Frankfurt/New York, 601 Seiten, 98 Mark