Zum Theater verführen

■ Der neue Spielplan: Kleine Kurskorrekturen zugunsten des Bremer Publikumsgeschmacks

Als künstlerischer Hochleistungssportler hatte sich Intendant Klaus Pierwoß bei seinem Antritt in Bremen vorgestellt, als er mit einem Premierenmarathon die laufende Spielzeit eröffnete. Im ersten Monat ließ er fast täglich das Portal des Theaters am Goetheplatz mit neuen Stückprospekten beflaggen. Nun zu Beginn des zweiten Jahres seiner Intendanz wird sich zeigen, ob die Puste auch für eine zweite Runde ausreicht. Beim Blick auf den gerade vorgestellten Spielplan zeigt sich, daß Pierwoß an seinen Schwerpunkten festhält: Herausragend viele Erstaufführungen unter den Stücken, Dominanz von Frauen im Bereich der Regie und 60 Prozent Ostschauspieler an einem West-Theater. Was sich allerdings im neuen Spielplan bemerkbar macht, ist der Erwartungsdruck des Bremer Publikums. Nicht alle Neuerungen der Intendanz wurden von Kritik und Publikum gleichermaßen goutiert. Bei aller Kontinuität geht der Spielplan stärker auf das Amüsierbedürfnis des Publikums ein.

„Die Zuschauerzahlen sind eigentlich unsere einzige Sorge, aber die drückt schon“, räumt Uli Fuchs, Dramaturg im Bremer Theater ein. „So befriedigend Pierwoß' erste Saison in künstlerischer Hinsicht verlaufen ist, so unbefriedigend sind die Zahlen der Platzausnutzung. Wir bräuchten beim Schauspiel 30 Prozent mehr!“ Man könne zwar mit dem Musiktheater ganz zufrieden sein, aber im Schauspielhaus, da liege die Platzausnutzung nur bei 50 bis 60 Prozent, wo es 80 Prozent sein müßten. Die Gründe erklären das Dilemma zwar, ändern aber an der Sachlage nichts: „Sterne Am Morgenhimmel“ konnte wegen der Erkrankung einer Hauptdarstellerin nicht richtig anlaufen. auch die für Bremen prestigeträchtige Doppelproduktion von Tony Kuschners „Engel in Amerika“ konnte die Zuschauer nicht ins Theater locken. Und überhaupt leidet man noch an dem Image, das die öde Heyme-Ära dem Theater verpaßt hat. Zusätzlicher Druck entsteht für die Kulturschaffenden am Goetheplatz dadurch, daß zwei Millionen Subventionskürzung eigentlich durch erhöhte Einnahmen wettgemacht werden müßten. „Jetzt müssen wir alles daran setzen, die Leute wirklich zum Theater zu verführen“, und da sind bekanntlich alle Mittel recht.

Im Spielplan 95/96 schlägt sich der Flirt um die Gunst des Zuschauers in der Kombination von attraktiven Stücken, inszeniert durch junge originelle RegisseurInnen, nieder. Nach der relativ eigenwilligen Eröffnung mit dem unbekannten Stück, „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ von Witold Gombrowicz von Barbara Bilabel inszeniert, wendet man sich eingängigeren Stücken zu. Sean O'Caseys „Der Anfang vom Ende“ und gleich darauf: „Lulu“ von Frank Wedekind in der, lange wegen „Unzüchtigkeit“ verbotenen, Urfassung. Christina Friedrich, die einzige Hausregisseurin im Bremer Theater, wird „Lulu“ und darüberhinaus Georg Büchners „Woyzeck“ auf die Bühne bringen. Die Zugnummern - „damit die Hütte voll wird“ - erhofft man sich dann von „einem deutschen Musiktheater, ohne Musicalplattheiten“, Bertold Brecht / Kurt Weills „Dreigroschenoper“. Dafür hat man den erfolgreichen polnischen Theatermann Andrej Woron gewonnen. Auch „Schattenlinie“, das neue Stück von Tankred Dorst, versucht an den Erfolg des Dorst-Abends „Herr Paul“ anzuknüpfen und darüber hinaus mit einem theatererfahrenen Gegenwartsautor längerfristig zusammenzuarbeiten. Als besonderen Clou wartet das Theater mit einem bislang verschollenen Stück von Rainer Werner Fassbinder auf, dessen „Nur eine Scheibe Brot“ von der Unmöglichkeit einen Film über den Holocaust zu drehen erzählt, ein Beitrag zur aktuellen Diskussion.

Für das Sprechtheater ergibt sich damit ein Programm, das vorerst künstlerischen Anspruch und Rücksichtnahme an das Abonnentenpublikum in einer erträglichen Balance hält, ohne Verrat an der Sache zu begehen.

„Im Bereich des Musiktheaters ist die Fortsetzung der Annäherung an die musikalische Avantgarde und die musikalische Moderne geplant“, sagt Dramaturg Fuchs. „Allerdings wird man das Tempo in diesem Prozeß etwas mehr an das Publikum anpassen müssen. Wir setzen jetzt mehr auf Zugpferde.“

Nach der Eröffnungsinszenierung des neuen Generalmusikdirektors Günter Neuhold Schönbergs „Moses und Aron“ folgt in der Tat eine Praline nach der anderen: „Madame Butterfly“, „Die Entführung aus dem Serail“ und Richard Strauss' „Ariadne auf Naxos“. Durchmischt wird das Ganze durch sperrige Kanthölzer der Moderne: Wolfgang Rihms „Jacob Lenz“ und „Werther“ von Jules Massenet.

Im Tanztheater stehen neben Wiederaufnahmen drei große neue Produktionen von Susanne Linke, Urs Dietrich und eine dritte von den TänzerInnen des Bremer Ensembles an. Hier lassen Titel wie, „Ein Projekt nach Shakespeare“ nur vage Voraussagen zu: „Es entsteht alles in der Arbeit, da weiß man nur: Die Reise hat erst begonnen.“

Susanne Raubold