Jeder soll seine Chance bekommen Von Andrea Böhm

Ich habe es mir ja lange Zeit verkniffen, ein skeptisches Wort zu Marion Barry zu sagen oder gar zu schreiben. Schließlich bin ich eine überzeugte Anhängerin der Resozialisierung und Rehabilitation. Jeder soll seine Chance bekommen, habe ich mir gedacht. Und wenn die Mehrheit meiner Washingtoner Nachbarn und Mitbürger meint, dieser Mann, der das Ende seiner letzten Amtszeit als Bürgermeister der US-Hauptstadt im fortgesetzten Crack-Rausch verbracht hat, sei nach Drogenentzug und Gefängnisaufenthalt der Richtige, um die bankrotte Stadt zu sanieren – tja, dann ist das auf den ersten Blick vielleicht nicht verständlich, aber Volkes Wille. Also wurde Marion Barry letzten November wieder zum Bürgermeister gewählt. Geläutert und demütig hatte er sich präsentiert – wie ein Sünder, der in der Buße den rechten Weg gefunden hat. Möge ihm die Stadt nun folgen.

Die aber kann derzeit, finanziell betrachtet, kaum noch auf ihren eigenen Beinen stehen, geschweige denn laufen. Das derzeitige Haushaltsdefizit wird auf 700 Millionen Dollar geschätzt; das städtische Wohnungsamt wurde wegen krasser Mißwirtschaft im sozialen Wohnungsbau gerade unter gerichtliche Aufsicht gestellt; Fahrpreise für Bus und U-Bahn werden um zehn Cent erhöht; die ohnehin schon mageren Gehälter der städtischen Angestellten um zwölf Prozent gesenkt; die Müllabfuhr soll auf Anordnung der Stadtverwaltung alle Recycling-Programme einstellen, was bis auf weiteres wieder ein Richter verboten hat.

Das könnte mir als Ausländerin nun alles egal sein. Ist es aber nicht, denn die Stadt Washington streicht alle drei Monate einen nicht ganz unerheblichen Anteil meines Einkommens als Steuer ein – und beteiligt mich damit nicht nur an der Finanzierung eines korrupten Wohnungsamtes, sondern auch neuer Telefonleitungen, Überwachungskameras in und eines Sicherheitszauns um das Haus unseres geläuterten Bürgermeisters. Kostenpunkt: 90.000 Dollar. Weitere 1,4 Millionen Dollar an Steuergeldern gehen pro Jahr für Barrys Bodyguards aus den Reihen der Washingtoner Polizei weg.

Nun hat die Vergangenheit bewiesen, daß die Person, vor der man Marion Barry am meisten schützen muß, Marion Barry ist. Und die Frage sei erlaubt, ob das nicht etwas billiger zu bewerkstelligen ist.

Aber die Washingtoner Polizei hat bei der Setzung ihrer Prioritäten ganz eigene Maßstäbe. Letzte Woche bekam der Ex-Boxweltmeister und Millionär Mike Tyson – nach Verbüßung einer dreijährigen Haftstrafe wegen Vergewaltigung auf Kurzbesuch in Washington – auf Kosten der Stadt mehrere Polizisten als Body Guards gestellt. Der Pressesprecher der Polizei fand daran überhaupt nichts Anstößiges. „Wir wollen auf prominente Besucher einen guten Eindruck machen, damit sie wiederkommen.“ Das sei gut für die Tourismusbranche. Der Bürgermeister wiederum konnte zu diesem Vorfall keine Stellung nehmen. Er war gerade zum „afrikanisch-afro-amerikanischen Gipfeltreffen“ in den Senegal abgereist, um dort für seine Stadt zu wirken. Mit der Regierung Guineas soll er vertiefende Gespräche über die Möglichkeiten des Ananasimports nach Washington geführt haben. An Obstmangel wird die Stadt wenigstens nicht zugrunde gehen.