: Dicke Luft - aber volles Rohr
■ Ein halbes Jahr nach der Öffnung der Oberbaumbrücke wächst der Unmut der Anwohner über Motorenlärm am Tag und bei Nacht, Verkehrssünder und stinkende Abgaswolken / Resignation der Initiativen
Die graue Motorwelt vor der Haustür geht der kleinen Nora mächtig auf die Nerven. Am liebsten, schimpft die siebenjährige Kreuzbergerin, würde sie die vorbeirauschenden „Stinkkisten einfach auf den Mond schießen“. Die Erstkläßlerin aus der Oberbaumstraße hat allen Grund zur Klage: Draußen spielen, früher für Nora so selbstverständlich wie das Zähneputzen, kann sie wegen der vielen Autos und Lastwagen nur noch selten. Auch in der Wohnung fühlt sie sich eingeschränkt. Die Fenster bleiben stets geschlossen, den Balkon haben die Eltern zum Sperrgebiet erklärt. „Ein richtiger Mist“, brummt Nora und stampft vor Wut auf.
Kürzlich, erzählt ihre Mutter, habe das Mädchen zum ersten Mal von Umzug gesprochen – während eines Besuchs bei Bekannten, die in einer verkehrsberuhigten Gegend am Stadtrand wohnen.
Ein halbes Jahr nach der Öffnung der Oberbaumbrücke für den Autoverkehr wächst im Kiez rund um das Schlesische Tor der Unmut über Motorenlärm, Abgaswolken und Verkehrssünder. Die Folgen der Brückenöffnung, mit der der Senat den Startschuß für das großspurige Auto-Karussell Innenstadtring gegeben hat, zerren an den Nerven der Anwohner. Viele klagen über Kopfschmerzen, Übelkeit oder Hustenanfälle. Besorgte Eltern lassen ihre Kinder aus Angst vor Unfällen nicht mehr allein aus dem Haus.
Denn dort, wo einst kaum mehr Verkehr floß als in einer Mariendorfer Sackgasse bei Smog-Alarm, tobt jetzt der motorisierte Großstadt-Dschungel: Staus in der Rush-hour, verpestete Luft, hoher Lärmpegel – und folgenschwere Unfälle.
Erst vor knapp zwei Monaten wurde zur Hauptverkehrszeit ein Kind beim Überqueren der weiträumigen Kreuzung Schlesische Straße/Oberbaumstraße von einem Auto angefahren. Insgesamt registrierte die Polizei in diesem Jahr im näheren Umkreis des Schlesischen Tors neun Verkehrsunfälle, darunter zwei mit Verletzten. Das wundert Rainer Sauter vom „Verein SO 36“ wenig. Der Verkehr sei dort in den vergangenen Monaten eben dichter, hektischer und deshalb auch gefährlicher geworden.
Stumme Zeugen dafür sind die in den Boden eingelassenen Fahrradständer auf dem Gehsteig am Kato, die von Autofahrern immer wieder umgenietet würden, oder die vielen rasierten Begrenzungspoller entlang der Oberbaumstraße. Auch viele Bewohner im Kiez wettern gegen die zunehmend rüpelhaften Autolenker. Die Skalitzer Straße und Oberbaumstraße, sagt etwa Thomas Bauck, seien zu regelrechten „Verkehrs-Sünder-Meilen“ geworden. Der Koch des Restaurants „Oberbaum-Eck“ beobachtet jeden Tag „bis zu 20 Beinahe-Karambolagen, Dutzende Rotfahrer und etliche Raser“.
Der Autowahn macht auch vor der Dunkelheit nicht halt. Abends und nachts, wenn die Bahn frei ist, zieht es notorische PS-Rowdies und Freizeit-Rallye-Piloten an die Brücke. Von der Ampel an der Skalitzer Straße jagen sie mit aufheulenden Motoren und quietschenden Reifen auf die Piste, um nach einem Wendemanöver auf der Oberbaumbrücke wieder zum Start zurückzusausen und sich dort mit einer Dreiklangfanfare von den aufgeschreckten Anwohnern zu verabschieden.
Die Gemüter sind erregt, doch die Resignation sitzt tief. Selbst die im September 1991 gegründete „Brücken-Initiative“, die unter dem Motto „Oberbaumbrücke bleibt Stadtringlücke“ gegen die Senatspläne mobil machte, hat sich längst aufgelöst. Zuvor ließen die Brückengegner noch eine Broschüre über den verlorenen Kampf gegen den Autowahn drucken – mit dem bezeichnenden Titel: „Bringt doch eh nix“.
Womöglich auch deshalb sind bisher keine Bürgerklagen bis zu Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) vorgedrungen. Sein Sprecher Tomas Spahn jedenfalls weiß nur von positiven Reaktionen zu berichten.
Viele seien offenbar „erstaunt, daß da nicht mehr los ist“. „Horrorszenarien“, wie sie Bürgerinitiativen und Umweltschützer an die Wand gemalt hätten, spielten sich an der Oberbaumbrücke nicht ab, sagt Spahn, der auf die neue Asphaltroute partout nichts kommen läßt. Für das Verkehrsaufkommen wie an der Oberbaumbrücke kennt Spahn nur ein Wort: „großstadttypisch“. Frank Kempe
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