Die Kraft der zwei Herzen

■ Der Tiger ist los: Beim Tourneeauftakt in der Stadthalle brüllte Tom Jones dem Publikum die Ohren frei – und das Mittelalter tanzte auf den Stühlen

Man kann es zwar nicht ganz vergleichen“, sagt die graublonde Dame zu ihrer Begleiterin und nippt am Pausenpiccolo („zwei Piekolo“, hatte sie am Tresen gefaucht), „aber bei Karl Moik war die Stimmung ähnlich“. Nämlich: Oben auf der Bühne schönste Partylaune, drunten im Saale andächtige Stille. Das sollte sich ändern. Als Tom Jones seine letzte Zugabe bringt – die berüchtigte Dampfhammerversion von „Kiss“ –, da tanzen die Damen längst auf den Stühlen, da drängeln sie sich dicht vor der Bühne, um sich im Schweißgeruch ihres Traummannes zu baden. So war es ein bißchen wie in alten Zeiten: Tom Jones packt den Tiger aus und die Damen juchzen – auch, wenn diese ihre Idol nur mit schmachtenden Blicken und nicht mehr mit fliegender Unterwäsche bedenken.

Wenn der Tiger in der Stadt ist, feiern die ortsansässigen Frisöre wahre Dauerwell-Festivals. Der Herzensbrecher, versiert dem 55. Lebensjahr ins Auge blickend, ist bekanntlich in der Form seines Lebens. Da gilt es, gleichfalls Haltung zu wahren, oder doch zumindest den Schein. Der Auftakt der Deutschland-Tournee in der Bremer Stadthalle glich so einem Jahrestreffen. Damen des besten Mittelalters deutlich in der Überzahl, einen gelegentlichen Gatten im Schlepptau; blumige Blusen, blumige Duftnoten und eben frisch gestärkte Haare.

So herrscht eine allseits gesetzte Atmosphäre im bestuhlten Saale, als das Licht verlöscht. Doch aus dem gepflegten Abend (mit eventuell dezent erotischen Zwischentönen) wird's nichts. Sowas liegt dem Tiger nicht. Der brüllt die Halle wach. Wie damals, Anfang der 60er Jahre, als sein Manager und Entdecker Gordon Mills sich um die verängstigten Kids im Publikum sorgte – „er war zu wild und aggressiv auf der Bühne“. Nun legen die Alten die Ohren an.

Denn hier waltet nicht irgendein betagter Entertainer, sondern der immer noch gewaltigste Poptenor des Planeten. Unterstützt von einer massiven Bigband, drückt Jones' Organ das Publikum in die Sitze. Aus den tiefsten Kellern seines mächtigen Resonanzkörpers holt er die Bässe; beseelt jauchzt er bei den samtenen Soulballaden, schluchzt hemmungslos bei den alten Schlagern.

Und er schreit sich die Seele aus dem Leib, wenn seine Band die neuen Rock- und Disconummern auspackt. In den Händen irgendeines angejahrten Alleinunterhalters würde ein solcher Stilmix fraglos zu einer beziehungslosen Monade werden – allein bei Jones hält die machtvolle Stimme alles bestens zusammen.

Noch das mittelmäßigste New-Wave-Liedlein wird hier durch Tigerpower zu einer druckvollen Tanznummer. Und die Evergreens drohen geradezu vor Kraft aus dem Ruder zu laufen: Jones' Riesenhit „What's new, Pussycat?“, eigentlich ein bedächtiger Schunkler, wird heuer als überdrehte Kirmeskapellengaudi gegeben; keck stoßen die Bläser ins Horn, dieweil der Meister den Refrain herunterpoltert und dazu herumtapst wie ein angeschossener Bulle.

Die Damen- und Herrschaften waren freilich gewarnt. Was soll man anderes erwarten von einem Manne, der immer noch als Ausbund an Virilität verkauft wird? Dessen neueste Platte die Tanzflure füllt, der selbst die müde Jugend beim jüngsten „Alternative“-Festival Englands in Fahrt brachte – „ich werde denen in den Arsch treten“, läßt der Berserker sich zitieren. Auf dem aktuellen PR-Foto schließlich posiert er in animalischster Tigerpose: Wildheit im Blick, der breite Torso mühsam von einem schwarzen T-Shirt gebändigt, die Unterarme, Popeye könnte es auch nicht besser, über der Brust verschränkt – so einer gräbt morgens den Vorgarten mit den bloßen Händen um, um abends auf der Bühne erst richtig loszulegen.

Eine allzu wilde Bühnenshow braucht Jones denn auch gar nicht zu inszenieren. Allein kraft seiner Stimme bringt er Leben in die Bude. Nur selten wagt der Tiger ein paar Tanzschritte. Wenn er stöhnt: „I'm too hot to handle“, greift seine Panke in die Lendengegend; ge-spreizten Schrittes hopst der Prachtkerl den Damen in der ersten Reihe entgegen – man ahnt, daß er sich mühsam im Zaum hält. Jede weitere Bewegung würde freilich auch die gute Maßhose sprengen. Das Hemd hat sich der Tiger längst aufgeknöpft und läßt demonstrativ ein schweres Goldkettchen von der Brust baumeln.

So schwelt verheißungsvoll der Ruch mühsam gebändigter Erotik im Saale. Da reichen Andeutungen, um die Getreuen in Wallung zu bringen: ein Zucken mit der Augenbraue, ein Wackeln mit dem Knackarsch – alles mit milder Selbstironie verabreicht. Auch Jones weiß, daß er mit seinen Damen in die Jahre gekommen ist. Dann räuspert er sich lautstark, leckt sich den Schweiß aus den Mundwinkeln – und donnert weiter. Bis ihm, wenn schon nicht die Mieder, so doch die Herzen zufliegen. Karl Moik, eat your heart out! Thomas Wolff