■ Normalzeit
: Basisarbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Es hat sich noch viel zu wenig herumgesprochen, daß der Sozial- und Wohlfahrtsstaat mit seinem Mittelschicht-Versprechen – durch bloßes Inganghalten des Wirtschaftswachstums Vollbeschäftigung, Karrieren für alle gar zu schaffen – langsam an sein Ende kommt. Was das für die Politik, den Staat heißen könnte, hat gerade Claus Koch in einem ausgezeichneten Buch, bei Hanser, zu beantworten versucht: „Die Gier des Marktes. Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft“.

Eine Zeitung wie diese müßte mittlerweile eigentlich so weit gehen, jeden Tag mindestens eine neue Projektidee oder Unternehmensgründung von unten vorzustellen – wo selbst das Manager- magazin jetzt schon „Panik“ von oben in bezug auf die ostdeutsche Wirtschaftssituation verbreitet. Aber die im oberen Drittel angelangte und mit Political correctness beschäftigte Linke hat sich just vom Klassenkampf-„Denken“ verabschiedet.

Dabei stößt man mit bloßem Auge auf mindestens eine exemplarische Basis-Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme (BAM) am Tag. Nicht alle sind so verschlungen wie diese:

Als der Sonntag-Photograph Frank Splanemann mit mir auf Einladung der ostdeutschen Firma GABEG 1994 im Ural die letzten Bauabschnitte der Erdgastrasse von Sibirien nach Deutschland besichtigte, halfen uns im Postamt von Perm zwei russische Deutsch-Studentinnen mit der Telefonnummer eines der GABEG-Camps in Kungur aus: Die eine, Lilja Ibraebba, hatte dort kurz als Dolmetscherin für ein schwäbisches Subunternehmen gearbeitet. In dem durch eine Alexander-Osang-Oster- Reportage bekanntgewordenen Kungur wurde damals gerade ein großes Betonplattenwerk fertiggestellt, dessen Inbetriebnahme jedoch seit dem Zerfall des sowjetischen Staates und dem vorläufigen Ende des kommunalen Wohnungsbaus fraglich geworden war. Für zwei Mark Warmmiete pro Quadratmeter pachtete es jetzt die von seinen leitenden Mitarbeitern privatisierte sozialistische Berliner Möbel-Handelsgesellschaft, die heute „Möbel Max“ heißt. Sie gründeten eigens dafür eine GmbH in Kungur, das einst die erste Station der Verbannten auf dem Weg nach Sibirien war und immer noch primär aus zwei Strafanstalten und einem Arbeitslager, für das es jedoch keine Arbeit mehr gibt, besteht.

Auch der Geschäftsführer von Möbel Max, Hans-Jürgen Prillwitz (über den Rolf Schneider gerade ein Porträt veröffentlichte, das den Erfolg des von Prillwitz mitkreierten „Bitterfelder Barock“ in Osteuropa erklärt), lernte dann Lilja kennen: Sie war inzwischen diplomierte Dolmetscherin geworden und arbeitslos. Prillwitz organisierte für sie einen sechsmonatigen Manager-Crashkurs in Berlin, danach sollte sie bei Möbel Max im Ural angestellt werden. Die dortige Geschäftseröffnung verzögerte sich jedoch, weil der Kungur-Partner vor Ort nicht richtig in Schwung kam, Prillwitz wandte sich schließlich – auf der Suche nach einer gewissen „Zwischenbeschäftigung“ für Lilja – an mich, was zur Folge hatte, daß die taz dann erst einmal und auf die Schnelle einen rosa Presseausweis zur Verfügung stellte, mit dem Frau Ibraebba nun quasi als „Ural-Korrespondentin“ fungieren kann.

Wenn also bald vermehrt Geschichten aus dem Oblast Perm in diesem Periodikum auftauchen, oder umgekehrt, so sollte sich darüber niemand wundern. Früher, Anfang der Achtziger, war es gang und gäbe, daß Leute, die sich im Ausland selbständig machen wollten, erst mal Artikel an die taz schickten. Ich erinnere nur an Hans-Jürgen Schmolcke, der aus Brasilien berichtete, während er sich eine Druckerei aufbaute, was damals leichter war, als eine Arbeitserlaubnis zu bekommen: „Das Niveau war dort sehr niedrig.“ Heute gehört ihm die Rathenower Anlagenbau GmBH: Er ist ein echter „Hoffnungsträger“ geworden. Helmut Höge

wird fortgesetzt