: "Ich spüre die Mauer heute tiefer"
■ Ein Gespräch mit Emine Demirbüken, Ausländerbeauftragte in Berlin-Schöneberg
taz: Mit 16 Jahren wurden Sie von Ihren Eltern in die Türkei zurückgeschickt. Warum?
Emine Demirbüken: Ich habe in Berlin die Grundschule sowie die Realschule besucht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine eigene Sprache kaum noch gesprochen. Das war für meine Eltern mit ein Grund für ihre Entscheidung zurückzukehren. Hinzu kam, daß mein jüngerer Bruder, der noch in der Türkei lebte, dort bereits die Grundschule besuchte.
Diese zwei Jahre in der Türkei bedeuteten für mich eine Wende. Ich übernahm die Verantwortung für die Zukunft der Familie, versuchte meine Eltern zu überzeugen, daß eine Rückkehr in die Türkei nach all den Jahren in Deutschland nicht mehr möglich ist und für uns negative Folgen haben würde. In den Jahren 1977 bis 1979, als ich das Lyzeum in Istanbul besuchte, herrschte Bürgerkrieg, den ich hautnah miterlebte, da sich an unserer Schule die „Grauen Wölfe“ angesiedelt hatten. Als ich erkannte, daß in der Türkei ein anderes Demokratie- und Freiheitsverständnis herrschte, als ich es hier erlebt habe, hat dies meine Auffassung verstärkt, daß ich meine Eltern um jeden Preis davon abhalten muß, in die Türkei zurückzukehren.
Die Angst, es könnte doch eine endgültige Rückkehr sein, hatte bei mir psychosomatische Erscheinungen zur Folge. Der Druck vergrößerte sich noch einmal – meine Eltern versicherten, sie würden nicht zurückkehren, aber ich müsse das Lyzeum beenden, bevor ich nach Berlin zurückkehren könne. Als ich das Lyzeum abschloß, durfte ich nach Berlin zurückkehren – mit meinem Bruder.
Wie schätzen Sie im Rückblick die Ängste Ihrer Eltern ein, Sie könnten assimiliert werden?
Die Ängste waren sicherlich berechtigt. Ein Kind, das seine Muttersprache nicht beherrscht, kann nicht mehr im eigenen Kulturkreis nachempfinden. Das hat zwangsläufig negative Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung. Ich hatte in den siebziger Jahren das Glück oder Unglück, daß ich fast immer die einzige Ausländerin in der Klasse war. Glück, weil ich dadurch die deutsche Sprache sehr schnell lernte; Unglück, da ich in der eigenen Sprache nicht mehr leben konnte.
Wie erlebten Sie Ihre Rückkehr nach Berlin?
Zu diesem Zeitpunkt ging der Kampf um Akzeptanz meines Bruders durch meine Eltern erst richtig los. Die ganze Familiendynamik mußte neu geordnet werden. Dazu muß ich eine kurze Anmerkung zu den Familien machen, deren Kinder in der Türkei aufwachsen und die dann plötzlich die Elternrolle übernehmen sollen: Mein Bruder kam mit 13 Jahren nach Berlin, und meine Eltern, die bis dahin in seiner Erziehung kaum eine Rolle spielten, wollten ihn unter anderem auch mit Verboten und Strafen erziehen. Mühsam mußten sie lernen, mit den Kindern zu sprechen und sie zu tolerieren. Das war für sie neu.
Haben es türkische Frauen schwerer als deutsche Frauen?
Es gibt sicherlich universelle Probleme der Frauen, aber einige Schwierigkeiten trennen uns von den EG-Frauen. In uns sind andere Werte und Traditionen verwurzelt. Wir müssen nicht nur um die Anerkennung als Frau kämpfen, sondern auch darum, die Familien zu behalten, wenn wir eigenständige Wege gehen. Zusätzlich müssen wir als Ausländerin um Anerkennung kämpfen. Ein Beispiel: Es wird nie gesagt, die Emine Demirbüken ist gut; man sagt, die Frau ist nicht nur attraktiv und Türkin, sie kann ja richtig etwas. Erlaube ich mir dagegen einmal einen Fehler, wird das gleich an meinem Status als Ausländerin festgemacht. Ich muß doppelt so gut sein wie die deutschen Frauen.
Das heißt, die Akzeptanz seitens der Mehrheitsgesellschaft ist noch nicht da?
Sie hat sogar regelrechte Ängste vor uns. Statt die zweite Generation zu fördern und zu unterstützen, wird sie als Konkurrenz gesehen – sowohl auf der wirtschaftlichen Ebene wie in den Behörden. Ich habe in einer sozialpädagogischen Einrichtung gearbeitet. Viele Kolleginnen haben sich neidvoll gefragt, warum die Immigranten im Umgang mit Jugendlichen erfolgreicher sind, anstatt zu fragen, was kann ich von ihnen lernen, was sie von mir.
Haben die deutschen Kolleginnen Schwierigkeiten, ihr paternatilistisches Verhalten gegenüber Ausländern abzulegen?
Zweifellos. In den Kindertagesstätten gibt es kaum ausländische Mitarbeiter, es gibt kaum Lehrer aus der jüngeren Generation. Ich kann doch als Vertreter der zweiten Generation viel besser mit der dritten Generation arbeiten als die Mehrheit der deutschen Mitarbeiter. Wohin es führt, wenn man glaubt, man könne auf unsere Erfahrungen verzichten, haben wir in den letzten Jahren gesehen – zu Desintegrationserscheinungen.
Sind Sie die Ausnahmeerscheinung, die ganz andere Türkin?
Nein. Wie viele andere Frauen auch habe ich aus meinen biographischen Vorgaben eine gute Synthese für mich entwickelt. An der deutschen und türkischen Gesellschaft stört mich so einiges: Es stört mich, daß die europäische Gesellschaft in ihren Gefühlen so gehemmt ist, daß es keinen ausgeprägten Familiensinn gibt und die Freundschaftsverhältnisse auch nicht so ausgeprägt sind wie bei den mediterranen Kulturen. Die Deutschen sind zu nüchtern und zu sachlich. Bei den Südländern fehlt mir dagegen die Sachlichkeit. Wir sind zu emotionsgeladen. Es fehlt die Fähigkeit, Beschlüsse zu fassen, um diese dann in die Tat umzusetzen.
Wie kamen Sie zu dem Ansatz, die Ausländerarbeit müsse sich verstärkt den Deutschen zuwenden?
Man hat in den letzten Jahren versäumt, bei den Deutschen Akzeptanz und Toleranz zu fordern. Es wurde nichts getan, um die Deutschen für die multikulturelle Gesellschaft zu gewinnen. In unseren privaten Bereichen haben wir eine Menge für die Verständigung getan, aber aus dem Politikbereich wurden keine Signale gesetzt. Natürlich gibt es inzwischen eine Gruppe von Menschen, die von uns gelernt hat, die sich uns gegenüber nicht mehr so gehemmt verhält wie früher. Aber das ist unzureichend. Aus diesem Grund habe ich mir gedacht, den Schwerpunkt meiner Arbeit auf die deutsche Seite zu legen; indem ich versuche, Ebenen zu schaffen, wo sich die Mittler – also die Lehrer, Sozialarbeiter, Mitarbeiter in den Sozialbehörden – intensiv austauschen und auseinandersetzen können. Ich habe einen Lehrerkreis gegründet, der ein Jahr nur aus Gesprächen bestand, da die Lehrer mit ihren Problemen so vollgeladen waren. Dadurch ist zumindest eine Sensibilität gegenüber der Situation von Schülern und Schülerinnen aus Migrantenfamilien entstanden.
Wie hat sich seit der Wiedervereinigung die Situation für die in Berlin lebenden Türken verändert?
Ich habe mir immer gesagt, du bist ein Teil dieser Stadt und die Stadt ist ein Teil von dir. Dieses Gefühl ging in den letzten Jahren fast verloren. Westberlin ist noch immer meine Heimat, aber seit es diese Einheit gibt, weiß ich wieder, was es heißt, Angst zu haben. Ich kann als typische Ausländerin sehr gut nachempfinden, wenn es um Gewalttaten geht, um Übergriffe, die in den Medien meist verharmlost werden. In bestimmten Bezirken kann ich mich nach 20 Uhr nicht mehr auf die Straße wagen. Ängste und Unsicherheit sind da.
Interview: Eberhard Seidel-Pielen
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