Unruhe im Wartesaal der Macht

Fünf Jahre nach der Wende droht der Slowakei eine neue Einparteienherrschaft. Doch der Protest dagegen wächst nur langsam.  ■ Aus Prag und Bratislava Sabine Herre

Zumindest einen slowakischen Intellektuellen kann man derzeit in Prag treffen. Der Dramaturg und Regisseur Martin Porubjak, einst führender Politiker der Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“, arbeitet sowohl für das slowakische als auch das tschechische Nationaltheater. Im vergangenen Jahr inszenierte er für beide Bühnen das Stück von der „Katze und dem Hund“, ein Märchen, das von der Haßliebe zwischen Slowaken und Tschechen erzählt – und wegen seiner Zweisprachigkeit von den slowakischen Nationalisten scharf kritisiert wird. Warum, so fragen sie, muß auf slowakischen Bühnen tschechisch gesprochen werden? Dem Publikum in beiden Staaten jedoch gefällt es. Das Stück läuft bis heute.

Die Kritik der Nationalisten an „Katze und Hund“ ist kein Einzelfall. Wer weiß, wie sich der neue slowakische Kulturminister Ivan Hudec seine zukünftige Arbeit vorstellt, könnte Porubjaks Prager Aufenthalt als erste Stufe zur bevorstehenden Emigration in die Tschechische Republik werten. Zumal der Minister und sein Sprachrohr, die Tageszeitung Slovenská Republika, ihre Angriffe besonders gegen das Nationaltheater richten. Zu wenig Werke slowakischer Autoren würden da ausgerechnet im 75. Jahr nach der Gründung aufgeführt. Gefragt werden müsse, ob Institutionen, die in ihrem Namen die Begriffe „national“ und „slowakisch“ führen, diese überhaupt verdienen. Hudec, selbst Regisseur und Schauspieler, droht seinen Kollegen: „Wir werden darüber nachdenken müssen, ob diese Einrichtungen ihre Pflicht erfüllen.“

Porubjak hat das in der Slovenská Republika Anfang des Jahres erschienene Interview, in dem der Minister seine Vorstellungen der Kulturpolitik entwickelt, mit nach Prag gebracht. Ganz so, als wolle er seinen tschechischen Kollegen zeigen, was in der Slowakei fünf Jahre nach der samtenen Revolution wieder möglich ist. Entlassungen von Mitarbeitern des Kulturministeriums etwa, da die dort arbeitenden Slowaken „keine positive Beziehung zu ihrer Heimat haben“. Oder die Ankündigung, mit Hilfe einer neuen „Informationsagentur“ das im Ausland herrschende negative Bild der Slowakei zu verbessern.

Dennoch winkt Porubjak bei der Frage nach Emigration ab. Eine slowakische kulturelle Emigration in die Tschechische Republik gebe es – noch – nicht. Er selbst habe sich trotz der Niederlage der Bürgerbewegung nicht aus der Politik zurückgezogen. Die „Ständige Konferenz des Bürgerinstituts“ (SKOI), in der er sich zusammen mit vielen anderen ehemaligen Bürgerrechtlern engagiert, trat gemeinsam mit der „Christdemokratischen Bewegung“ (KDH) bei den Parlamentswahlen Ende September 1994 an. Einige Abgeordnete haben den Einzug ins Parlament geschafft, neben ihrer Parlamentsarbeit fahren sie regelmäßig übers Land, um in slowakischen Kleinstädten über die „Die Demokratie am Fuße der Tatra“ zu berichten.

Säuberungen in der „Nacht der langen Messer“

Diese Demokratie erhielt ihre derzeitige Gestalt im Herbst des vergangenen Jahres. Denn schon die konstituierende Sitzung des neugewählten Parlaments zeigte, daß Wahlsieger Vladimir Mečiar entschlossen war, eine erneute Entmachtung mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Bereits zweimal, 1991 und 1994, hatten ehemals verbündete Abgeordnete den Ministerpräsidenten vom Thron gestürzt, nun kam es in der Nacht vom 3. auf den 4. November zum „Putsch der Regierungsparteien“: Alle wichtigen Positionen im Parlament und seinen Ausschüssen wurden von der links-nationalistischen Koalition besetzt. Die in dieser „Nacht der langen Messer“ durchgeführten Säuberungen betrafen vor allem den Medienbereich: Neu besetzt wurden die Fernseh- und Rundfunkräte, zum Direktor des staatlichen Radios wurde ein Abgeordneter der Mečiar-Partei „Bewegung für eine Demokratische Slowakei“ (HZDS) ernannt. Als wenig später dann auch noch der Direktor des staatlichen Fernsehens und der Leiter der staatlichen Presseagentur ihre Plätze für Mečiar- Anhänger frei machen mußten, fühlten sich viele ehemalige Dissidenten an die ersten Jahre der sogenannten „Normalisierung“ nach der Niederschlagung des Prager Frühlings erinnert. Tatsächlich betraf die Machtergreifung der HZDS das ganze Land: Ausgewechselt wurden der Generalstaatsanwalt, der Leiter des Geheimdienstes, Mitglieder der slowakischen Treuhand, Direktoren von Galerien, Krankenhäusern und Verwaltungsbezirken.

Petition für die „Freiheit des Wortes“

Mit einem Angriff Mečiars rechneten auch die Tageszeitungen des Landes, denn von den sieben großen überregionalen Blättern unterstützt allein die Slovenská Republika die Regierung. Da die Regierung auf die inzwischen privatisierten Verlage keinen direkten Einfluß mehr hat, versuchte sie die Arbeit der Journalisten indirekt zu behindern. Die staatliche Presseagentur erhöhte ihre Preise drastisch, an den nach Regierungssitzungen abgehaltenen Pressekonferenzen nahmen keine Minister mehr teil, sondern deren Sprecher.

Die ersten, die auf das „Niederwalzen der Menschenrechte“ reagierten, waren die Studenten. Am 17. November – dem Tag also, an dem vor fünf Jahren in Prag die samtene Revolution begonnen hatte – und erneut zum Tag der Menschenrechte im Dezember versammelten sich an die zehntausend Demonstranten auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes in Bratislava. Zwar habe sich, so die Redner unisono, seit 1989 einiges zum Positiven verändert, doch nun gebe es erneut Versuche, ein autoritäres Regime zu errichten. „Wieder müssen wir für Demokratie und Humanität auf die Straße gehen.“

Zwei Monate später gründeten zehn Menschenrechts- und Umweltgruppen die „Vereinigung der Bürgerorganisationen“, die in einer ersten Erklärung die Einrichtung eines Parlamentsausschusses für Menschenrechte forderte. Und ähnlich wie viele Bürgerrechtsgruppen Osteuropas vor 1989 klagten die Unterzeichner die Möglichkeit ein, über ihre Initiative im Fernsehen berichten zu dürfen. Fünf Jahre nach der Revolution erschien ihnen eine faire Berichterstattung der staatlichen Medien nicht mehr gesichert.

Einen erneuten Höhepunkt erreichten die Proteste, nachdem das Staatsfernsehen drei – nun als „antislowakisch“ geltende – Satiresendungen aus dem Programm genommen hatte: Eine Petition „Für die Freiheit des Wortes“ wurde von über 120.000 BürgerInnen unterzeichnet, auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes versammelten sich erneut Tausende. Am 6. März schließlich protestierten die regierungskritischen Zeitungen mit einem weißen Titelblatt und dem Text „Znepokojenie – Beunruhigung“ gegen die restriktive Pressepolitik der Regierung. Auf die Seite der JournalistInnen stellte sich auch Präsident Michal Kováč: Bei einem Empfang für vierzehn Vertreter der Massenmedien bezeichnete er es als „unsinnig“, von den Medien zu erwarten, daß sie Politiker mit „Samthandschuhen“ anfassen.

Eine Reaktion der Regierung auf die Proteste blieb zunächst aus. Sie benahm sich, als gäbe es überhaupt keine Auseinandersetzungen. Bei einer Pressekonferenz hundert Tage nach der Regierungsbildung erklärte Vladimir Mečiar, daß er keine „grundsätzlichen“ Probleme mit den Journalisten habe. Und die stellvertretende Premierministerin Katarina Tothová fügte hinzu: „Die Regierung tut alles dafür, daß die Freiheit des Wortes erhalten bleibt. Aber sie tut auch alles dafür, daß ihre Minister frei reden können. Die Regierung sichert die Objektivität der Presse.“ Um deutlich zu machen, was diese Regierung über die Teilnehmer der Demonstration „Für die Freiheit des Wortes“ denkt, schickte sie den Obersten Richter der Republik, Jozef Stefanko, vor. Im Fernsehen durfte er vor „Anarchie“ und einem „Massaker“ warnen.

Gesetz gegen die Selbstverwaltung

Zweites Aktivitätsfeld der Mečiar-Regierung war das Bildungssystem. Anfang April nahm das Parlament eine Novellierung des Gesetzes über die schulische Selbstverwaltung an, die von der zur Slowakischen Nationalpartei gehörenden Schulministerin Eva Slavkovská vorgelegt worden war. Von nun an sollen nicht länger die regionalen Schulräte, sondern das Ministerium über die Besetzung der Direktorenposten in den Schulen entscheiden.

Ähnliche Zentralisierungstendenzen gibt es auch im Bereich der Hochschulen. Hier geht es vor allem um die Bestellung der Akkreditierungskommissionen, die über die Ausstattung der einzelnen Fakultäten entscheiden. Immer wieder hinausgeschoben wird von der Regierung dagegen die im Wahlkampf versprochene Verdoppelung der Gehälter der Lehrer. Diese nutzten den Geburtstag des tschechischen Pädagogen Jan Amos Komensky, den bisherigen „Tag des Lehrers“, daher zu vielfältigen Protesten. Allein in Bratislava unterzeichneten dreihundert Hochschuldozenten ein Dokument, das die Regierung auffordert, die Arbeit an den Hochschulen finanziell sicherzustellen.

Ob die Lehrer jedoch auch bereit sein werden, sich an dem von der Gewerkschaft angekündigten Streik zu beteiligen, scheint fraglich. Zumindest an der Philosophischen Fakultät der Komenius-Universität ist man, so Hochschullehrer Peter Michalović, eher damit beschäftigt, mit Anträgen bei internationalen Stiftungen die zur Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Arbeit notwendigen Gelder zusammenzubekommen: Allein zwischen 1992 und 94 sanken die staatlichen Mittel um 50 Prozent. Genau aus diesem Grund, so Michalović, würden immer mehr Wissenschaftler nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten oder das Land verlassen.

Gibt es sie also doch, die Emigration der Intellektuellen in die Tschechische Republik? Wenngleich auch „nur“ aus ökonomischen Gründen? „Natürlich überlegt man immer wieder, ob es nicht besser sei, zu gehen“, meint ein Mitarbeiter von Radio Ragtime. Auch wenn der Musiksender mit Kulturprogramm bisher keinerlei Einschränkungen seiner Arbeit erfuhr. „Wir haben in Prag studiert, die tschechische Kultur und Sprache sind uns nah, der Schritt wäre also nicht allzu groß“, sagt Marie Rihaková. Doch „noch“ will die Redakteurin der Zeitschrift Museum bleiben, „noch“ will sie abwarten, wie weit Mečiar gehen wird. „Angesichts der Vielfalt unabhängiger Zeitungen und Zeitschriften“, so die einhellige Meinung, „ist die Freiheit des Wortes gesichert.“ Und nicht wenige junge Leute, wie etwa die Frauen der feministischen Zeitschrift Aspekt, fragen: „Warum nach Tschechien? Mit dem dort entstehenden System der Marktwirtschaft à la Margaret Thatcher sind wir schließlich auch nicht einverstanden.“

Die oppositionellen Intellektuellen der Slowakei: Irgendwie haben sie sich in der „Demokratie am Fuße der Tatra“ eingerichtet. Schließlich kämpfen sie bereits fünf Jahre gegen die Angriffe Mečiars und für die Erhaltung ihrer vielfältigen Projekte. Nicht wenige waren dabei erfolgreich. Der Verlag Archa etwa, der als einer der ersten nach der Revolution entstand und heute fünf feste Mitarbeiter beschäftigt, hat fast hundert Titel herausgegeben. Und auch das nach dem November 1989 gegründete Theater Stoka hat es geschafft, sich mit Hilfe ausländischer, aber auch staatlicher Unterstützung einen Namen zu machen.

Kein Geld für die Mečiar-Gegner

Dennoch mußten auch herbe Niederlagen hingenommen werden. Der traditionsreichen Literaturzeitschrift Kulturny život entzog die Mečiar-Regierung schon vor Jahren die Unterstützung und finanzierte statt dessen die regierungstreue Literárny týždennik. Und auch Slovenské pohlady, die Monatszeitung der Schriftsteller, ist heute ein Organ der Mečiar- Anhänger. Abgewartet werden muß, wie die staatliche Kulturstiftung „Pro Slovakia“ nach einer umfangreichen Auswechslung der Mitglieder ihre Gelder verteilen wird. Martin Šimečka ist sich freilich sicher, daß sein Archa-Verlag schon in der letzten Amtsperiode Mečiars keine Chance auf staatliche Unterstützung mehr hatte. Der Machtkampf der vergangenen fünf Jahre hat das ganze Land in ein Pro- und ein Anti-Mečiar-Lager gespalten.

Tatsächlich haben es die Mečiar-Gegner inzwischen aufgegeben, die Mečiar-Anhänger zum Seitenwechsel zu bewegen. Schließlich, so der stellvertretende Chefredakteur der Tageszeitung Sme, habe selbst die erfolgreiche Wirtschaftspolitik von Premierminister Jozef Moravčik – der die Regierung nach der Entmachtung Mečiars im März 1994 ein halbes Jahr lang leitete – keine Verschiebung der Wählerblöcke bewirken können.

Eine Feststellung, die direkt die derzeitige politische Haltung der oppositionellen Intellektuellen bestimmt. Noch sind, so meinen sie, die Wähler Mečiars überzeugt von den umfassenden Qualitäten ihres „starken Mannes“. Seine Abwahl im März des letzten Jahres sei daher verfrüht und ein Fehler gewesen. Und da die Opposition diesen Fehler nicht ein zweites Mal begehen will, scheint sie sich stillschweigend darauf verständigt zu haben, das Problem Mečiar auszusitzen. Früher oder später, so ist immer wieder zu hören, werde die Regierung die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht mehr mit nationalen Parolen verdecken können. Daß der Premier die erwartete ökonomische Krise zur Aufhebung demokratischer Rechte nutzen könnte, hält kaum einer für wahrscheinlich. Martin Šimečka: „Ein autoritäres System wird es nicht geben, dafür ist Mečiar zu schlau.“

Einer der wenigen, die hier eine nicht so optimistische Position vertreten, ist Peter Zajac, wie Šimečka und Porubjak einer der Mitbegründer der in der Revolution entstandenen Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“. Aber auch er formuliert vorsichtig: „Die Politik der Regierung erweckt den Eindruck, daß sie nicht damit rechnet, die Macht noch einmal aus den Händen geben zu müssen. Denn dann würde sie viel vorsichtiger vorgehen.“ Daß die nächsten Parlamentswahlen planmäßig durchgeführt werden, ist für Zajac somit durchaus nicht sicher. Der Literaturwissenschaftler fordert, daß sich die slowakischen Intellektuellen wieder stärker in die Politik einmischen. Denn: auf den Ruin Mečiars zu warten wird wohl kaum reichen.