Idylle zu verkaufen

■ Eine Kleinstadt fürchtet sich vor dem Abzug von NATO-Truppen – wer soll denn dann im Stadtkern wohnen?

„Herzlich willkommen an der Weser aufwärts“. Ein kleiner Ort im Nienburgischen sieht im Juni nicht bloß dem Ende der Spargelzeit entgegen. Existenzängste gehen um, denn zum Monatsende zieht die 5. niederländische Fernwaffengruppe ab. Beinahe 30 Jahre lang lebte Stolzenau mit den Militärs und von ihnen. 1966 stationierte die NATO hier Hawk- später Patriot-Raketen. Als der Raketenschild mit dem Ende des kalten Krieges nicht mehr gebraucht wurde, kam es vor dreieinhalb Jahren zum Beschluß über den Abzug der 850 Soldaten. Seither plant die 7.000 Seelen-Gemeinde für die Zeit danach.

Im historischen Stadtkern machen die niederländischen Soldaten nebst Familienangehörigen über 40 Prozent der EinwohnerInnenschaft aus. Sie verfügten nicht bloß über eigene Kindergärten und Schulen – rote Briefkästen zeugen noch heute davon, daß selbst das Postwesen im Wohnquartier holländisch war. Diesem Viertel, überwiegend aus Reihenhäusern bestehend, droht nun der Leerstand.

Mit dem Diplom-Geographen Hans-Joachim Pratje haben sich Rat und Verwaltung eine Fachkraft besorgt, die sich mit der Umwandlung des Militärstandortes befassen soll. Der Konversions-Beauftragte wirbt mit „bezahlbarem Wohnraum“ und einer günstigen Verkehrsanbindung inmitten der Großstadtregionen Hannover, Bremen und Osnabrück. Auf einer Fläche von 18 Hektar plant Stolzenau mit EU-Millionen ein Gewerbegebiet. Weniger an Industriebetriebe, als vielmehr ansiedlungswillige Ingenieur- und Planungsbüros denkt der 35jährige Hannoveraner. „Die brauchen keine Autobahn, aber attraktive Wohnmöglichkeiten für ihre Angestellten“. Und im Gegensatz zu den Trabantenstädten, die die Amerikaner rund um Osterholz-Scharmbeck hinterließen, zählte für die Niederländer die Devise „Wohnen im Grünen“. Die letzte „Holländersiedlung“ wurde erst 1989 fertiggestellt. Idyllische Klinkerbauten mit Vorgarten und Carport sind für 250.000 DM zu haben.

Allerdings macht sich Gemeindedirektor Christian Lauenroth Sorgen über die Integrationsbereitschaft seiner Bevölkerung. NeubürgerInnen würden ohnehin mit Skepsis beäugt. Und nun fürchtet man sich davor, daß zuviele „Rußlanddeutsche“ durch die vergleichsweise günstigen Konditionen nach Stolzenau gelockt werden. Man bemühe sich, höchstens ein Drittel der 580 frei werdenden Wohnungen dieser Volksgruppe zukommen zu lassen.

Der Weserflecken blickt auf eine lange Tradition zurück. Seit 1370 kennt man seinen Namen und der bedeutet „Stolze Aue“. Stolz waren die Menschen hier auch, weil sie mit den Niederländern so gut auskamen. Und obwohl Stolzenau seinen Status als Kreisstadt aufgeben mußte, behielt es aufgrund der Gegenwart der Stationierungskräfte viele Einrichtungen, die für die Infrastruktur bis heute von großer Bedeutung sind. Das Defizit im Verwaltungshaushalt von 1,5 Millionen Mark, das sich durch den Truppenabzug ergibt, steckt die Gemeindekasse locker weg, denn hier „aufwärts der Weser“ haben die Stolzenauer 16 Millionen Mark Guthaben angesammelt. Eine Ausgangssituation, von der in den Umlandgemeinden Bremens nur geträumt werden kann.