„Es ist doch überall Fleisch dabei“

■ Der „Heartbreaker's Ball“, wie er brummt und kracht/ Eine Reportage aus den Untiefen der Bremer Einsamkeit

1200 Leute waren wieder da, Freitagnacht im „Modernes“. Ausverkauft. Wie jedesmal, versichern die Veranstalter, der „Bremer“ und die Agentur Revue. Man glaubt es ohne weiteres. Zum zehnten Mal schon hatten sich die einsamen Herzen aus der Stadt und umzu versammelt, um nicht immer bloß mit der Katze oder gar der Yucca-Palme ihre Probleme verhandeln zu müssen. Auch wollen sie im Supermarkt nicht ständig nach der Single-Apfeltorte und dem Single-Salat fragen. Vor allem aber wollen sich die Heartbreakers-Ballgäste natürlich verlieben.

Damit stehen die einsamen Bremer Herzen nicht alleine in der Landschaft. Single-Parties sind bundesweit im Trend, ob sie sich nun „Fisch sucht Fahrrad“ nennen wie in Berlin und Frankfurt oder eben „Heartbreaker's Ball“ wie in Bremen. Das Prinzip ist stets das gleiche: Balzwillige Damen und Herren tragen einen Button mit der Chiffre-Nummer ihrer Lieblingskontaktanzeige am Revers und warten auf Kontaktaufnahme. Damit Fehlsichtige dem Traumpartner in spe nicht vorzeitig zu nah auf die Pelle rücken, um nämlich die Kennummer abzulesen, machen Farbbuttons fehlende Menschenkenntnis wett: Einen roten Streifen trägt, wer „direkt“ angesprochen werden will; Blau bevorzugt, wer erstmal zum Drink eingeladen werden will; Grün signalisiert: bitte phantasievoll anbaggern; Gelb schließlich verleiht diskreten Beobachterstatus. Zusätzlich angeheizt wird das kollektive Liebesbedürfnis durch DJ Schabba Heinz („der genau weiß, was zur Zeit angesagt ist“) und Moderator Marcus Rudolph von Radio Bremen 4.

Manege frei: Herzensbrecher von 17 bis 50 sind gekommen, aus Syke, Verden und Delmenhorst und sonstwo. Mauerblümchen, Abräumer, erlebnishungrige Hausfrauen, graue Mäuse, Cowboy-Verschnitte, stolze Schönheiten: Alle sind da. Die Musik dröhnt, die Menge wallt, die Luft wird dicker. Ansprechen unmöglich, Anschreien möglich, animalische Instinkte liegen in der Luft. Die Blicke der Umstehenden - schmachtende, eindeutige, melancholische, zweideutige - streifen umher: Fleischbeschau.

„Schreiben Sie das, hier wird mit der Einsamkeit der Leute ein Geschäft gemacht“, ärgert sich Günther, der trotzdem schon zum dritten Mal mit dabei ist: „Ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft!“ Günter, ein vollbärtiger Vierziger, sitzt im Foyer auf einem Hocker. Der rote Streifen auf seinem Hemd hebt sich kaum ab. Warum die „Heartbreakers“-Bälle hier so gut laufen? „Die Bremer sind ein so stures, verschlossenes Völkchen!“ Zwei zugeknöpfte Schülerinnen, die ebenfalls der Disco-Dröhnung (Schabba-Heinz setzt versiert ganz auf Mainstream; je lauter, desto besser) im Saal entflohen sind, scheinen das zu bestätigen: „Wir wollen nur einen lustigen Abend verbringen.“

Ein Pärchen bestreitet belustigt, sich hier kennengelernt zu haben, und der schwer angeheiterte Herr mit den beiden heiteren mittelalterlicher Damen im Gefolge, die es noch einmal wissen wollen, ist wohl auch nur zufällig hier: „Die Damen suchten eine Begleitung“, fällt dem Mann ein, der seine Lieblings-Anzeigennummer auf dem Rücken trägt.

Derweil animiert Marcus Rudolph auf der Bühne: Aus den ersten Reihen holt er sich Kandidaten auf die Bühne, die in Partnerspielen ihre Berührungsängste verlieren sollen. Wer nach dieser Nacht leer ausgegangen ist, hat für seine 15 Mark Eintrittsgeld immerhin dem Voyeurismus frönen können. Beispielsweise auf dem Höhepunkt der Party: der Wahl des Paares des Abends. Hauptgewinn: eine Ballonfahrt. Drei Pärchen, die sich gerade erst kennengelernt haben, werden – für Game-Show-Gucker das tägliche Brot – öffentlich erniedrigt. Wer seine natürlichen Hemmungen am gründlichsten abstreift, der gewinnt; das Publikum entscheidet via Applaus.

Alsdann: Tango und Tekkno sollen aufs Parkett gelegt werden, ein Heiratsantrag „auf Japanisch“ gemacht; drittens gilt es, die Stimmung steigt, die besten Küsser des Abends zu ermitteln. Dabei verbeißen sich der Schnauzbart und die Krankenschwester derart ineinander, daß es Moderator Marcus Rudolph angst und bange wird: „Das reicht, das reicht, wie stehe ich sonst da?“

So mancher verläßt schließlich allein den Saal. Die wenigen, die Marcus Rudolph in diversen handgreiflichen Spielchen verkuppelt hat, stehen immer noch beieinander, als ob sie doch ein ganz klein bißchen daran glauben, daß Rudolph weiß, wo die Liebe hinfällt...

Ein Geschäft mit der Einsamkeit? „Ach was“, meint Claudia, 26, aus Syke, „es ist bloß zu laut. Und im vergleich zu Hannover geht's hier viel gesitteter zu.“ Ob sie auf ihre Kosten gekommen ist? „Ob Hannover oder Bremen– es ist überall Fleisch dabei!“ Neues Spiel, neues Glück, das nächste Mal wieder Open Air, 4000 einsame Herzen werden dabei sein...

Alexander Musik