Demokratie in weiter Ferne

■ Frank Golczewski über die politische Entwicklung in Weißrußland, wo Sonntag die 2. Runde der Wahlen stattfindet

taz: Gibt es in Weißrußland eigentlich bereits ein funktionierendes Parteiensystem?

Frank Golczewski: Präsident Lukaschenka ist für die Errichtung eines Präsidalregimes, um nicht zu sagen einer Präsidialdiktatur. Die Aufstellung der Kandidaten erfolgte daher nach einem Wahlgesetz, das die Parteien ganz deutlich benachteiligt. In den landwirtschaftlichen Gebieten wurden oft Kolchosvorsitzende oder Direktoren von Betrieben gewählt, damit der Deputierte später für seine Klientel sorgt. Die Kandidaten durften weder eigenes noch fremdes Geld, sondern umgerechnet nur 50 Mark aus Staatsmitteln für Wahlpropaganda verwenden.

Grundsätzlich kann man sagen, daß es neben einer Gruppierung um den Präsidenten die Kommunisten und die Agrarier-Partei gibt. Das sind im Grunde Nachfolgeorganisationen der ehemaligen Machthaber. Dann gibt es die Weißrussische Volksfront, die eine nationale demokratisch Partei ist. Unter den kleineren Parteien befinden sich die sozialdemokratische „Chwanada“ und der „Bund der Polen in Weißrußland“, mit denen die Volksfront ein Wahlbündnis eingegangen ist.

Wie sah die Wahlberichterstattung der Medien aus?

Die Parteien konnten nur in ihren eigenen Blättern über ihre Ziele informieren. Auch deren Arbeit wurde jedoch behindert. Die großen Zeitungen sind reine Propagandainstrumente des Präsidenten. Im Rundfunk stand den Kandidaten eine relativ geringe Zeit zur Verfügung. Im Fernsehen wurde das Wahlverfahren ausführlich erklärt. Darüber hinaus fand aber eine große Kampagne gegen den Hauptkandidaten der Weißrussischen Volksfront statt, es sollte der Eindruck erweckt werden, daß er ein Faschist ist. Das hängt damit zusammen, daß sich die Volksfront für die Beibehaltung der weißrussischen Staatssymbole und gegen die jetzt beschlossene Wiedereinführung der (modifizierten) sowjetischen Fahne aussprach.

Finden in Weißrußland tatsächlich „freie“ Wahlen statt?

Das kann man nicht sagen. So werden auf dem Land sogenannte „Fremdwahlen“ zugelassen, das heißt der Vater stimmt für mehrere Familienmitglieder ab. Die soziale Kontrolle ist sehr groß. Wir waren in einem Militärwahllokal, in dem ganz eindeutig die Soldaten vorher beeinflußt worden sind. Sie sind gemeinsam in die Kabinen gegangen und warfen die Zettel offen in die Urne.

Welche Bedeutung haben die Parlamentswahlen für die weitere politische Entwicklung.

Das Referendum, das am gleichen Tag wie die erste Runde der Wahlen stattfand, hat diese vollkommen abgewertet. Die Bevölkerung stimmte für das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen. Lukaschenka hat schon vor den Wahlen gesagt, daß er ohne Parlament regieren will. Zudem ist es überhaupt nicht sicher, ob die Abgeordneten jemals zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten werden. Im ersten Wahlgang erhielten nur 18 Kandidaten die notwendige Stimmenzahl. Ob es diesmal mehr werden hängt von der Wahlbeteiligung ab, die laut Wahlgesetz über fünfzig Prozent liegen muß. Wenn im zweiten Durchgang aber nicht mindestens zwei Drittel der Abgeordneten gewählt werden, muß die gesamte Wahl wiederholt werden.

In der offiziellen Erklärung des Wahlbeobachterkomitees steht, daß es noch ein weiter Weg bis zur Demokratie in Weißrußland sei. Das ist im Rahmen des diplomatischen Sprachgebrauchs der OSZE eine ganz scharfe Formulierung. Interview: Philip Banse und

Jan Schneider

Prof. Frank Golczewski lehrt an der Universität Hamburg. Vom 11.-17. 5. 1995 war er als Wahlbeobachter in Weißrußland.