Ein Anachronismus rüttelt am Boom

Umstritten verteidigte das schwer angeschlagene „Produkt Henry Maske“ seinen Weltmeistertitel im Halbschwergewicht gegen den gewöhnlichen Boxer Graciano Rocchigiani  ■ Aus Dortmund Peter Unfried

Am frühen Sonntagmorgen im hintersten Winkel der Dortmunder Westfallenhalle begab es sich, daß dringende Fragen nach der Ehre sich auftaten. „Wozu“, fragte in seinem wohlbekannten Idiolekt ein greulich zerschundener Graciano Rocchigiani (31), „machen wir eine Pressekonferenz, wenn hier nicht die Wahrheit gesprochen wird?“ Ein durchaus interessanter Einwurf. Aber: Ach ja, Wahrheit! Greifbar bleibt allein die Wirklichkeit, die stand auf den Zettelchen der Punktrichter und wies den alten Halbschwergewichts-Weltmeister der IBF, Henry Maske, einstimmig (117:111, 116:113, 116:114) als den neuen aus.

Womit ein Zustand erhalten bleibt, den die Mehrheit sich gewünscht hatte. Und dann auch plötzlich wieder nicht. Das nun richtig kraß merken zu müssen, hat Maske (31) erst etwas verwirrt, dann wohl auch verärgert. Seiner Aufforderung, anzuerkennen, daß er den Kampf über weite Strecken kontrolliert, Rocchigiani im Griff gehabt hatte und seinerseits „optisch klare Wirkungstreffer verzeichnet“ (Trainer Wolke) habe, mochte man in der Halle nicht so recht nachkommen.

Was zu verstehen ist: Mit der dreiviertelstündigen Inszenierung des Aktes, der sinnfrei „Eine Frage der Ehre“ geheißen wurde, dem Zelebrieren einer geschmacksfreien Messe, dem Warten auf den messianischen Übermenschen, setzt man beim Publikum Sehnsucht nach großen Emotionen frei, wie sie die sieben WM-Kämpfe Henry Maskes bisher nicht hervorrufen konnten. Diesmal schon: nur, daß der Kämpfer, der sie stillte, Graciano Rocchigiani war.

So begab es sich, daß die 13.000, die gekommen waren, Maske zu huldigen, nachdem Rocchigiani in Runde 9 daranging, den Unbezwingbaren auf den Boden zu schlagen, alle mühsam angelernte Ratio über Bord warfen und bereit waren, für den einen, vermeintlich großen Moment des Niederschlags den gesamtdeutschen Helden, das „nationale Kulturgut“ („Boxen and more“) zu opfern.

Maskes „Technischer Leiter“ Jean-Marcel Nartz hat später gesagt, daß „wenn Rocchigiani gewonnen hätte“, es „ein Rückschlag für den gesamten deutschen Boxsport gewesen“ wäre. Dies noch unter dem Eindruck, von „Familie Rocchigiani fürchterlich beschimpft“ worden zu sein. Tatsächlich erinnert die Aufbereitung an zurückliegende Tage: Bruder Ralf hat also von einer „Schweinerei“ gesprochen, Frau Christine am ganzen Leib gebebt und sich mächtig aufgeregt, und überhaupt war im Lager des Herausforderers, das so klitzeklein jetzt nicht mehr ist, die Verschwörungstheorie schnell beieinander.

Tatsächlich: Es stimmt, daß Manager Sauerland mittlerweile im Verband IBF ein nicht unwichtiger Mann ist. Es stimmt, daß „die Show auf Maskes Seite“ ist und „das Geld auch“ (Rocchigiani). Doch hat Maske tatsächlich „die letzten vier, fünf Runden nur noch im Unterbewußtsein geboxt“, wie er beobachtet haben wollte? Nein, behauptet verständlicherweise Maske: „Gracianos Hände waren hart, aber nicht so hart, daß sie mich zum Anzählen gebracht hätten.“

Tatsächlich weist auch die RTL- Statistik (212:193) Maske als den häufiger Treffenden aus, der vor der letzten Runde so klar führte, daß er nach Punkten nicht mehr verlieren konnte. Der Eindruck, der bei einigen haftet, ist aber der eines schwer getroffenen Maske, der sich über die Zeit retten konnte, weil dem ebenfalls total erschöpften Rocchigiani, wie sein Ex-Manager Klaus-Peter Kohl vermutete, „zwei Schläge“ fehlten „und die Sache wäre erledigt gewesen.“

Nachher war das schon wieder anders. Während Maske etwas indigniert, aber bemüht den souveränen Geschäftsmann gab, grollte Rocchigiani im gelben Bademantel, das Blut noch im Gesicht, verquollen und zerschlagen einmal mehr mit einer Welt, in der Söhnen von sardischen Eisenbiegern keine ökonomische und soziale Gerechtigkeit zuteil wird. Während der eine resigniert weiß, „daß das ganze Rumreden nischt bringt“, hat der andere, um die Mißverständnisse nicht zu vertiefen, dem Unterlegenen nicht den üblich übertriebenen Respekt gezollt und angefangen, die Zukunft zu sortieren.

Manager Sauerland fliegt demnächst nach Atlanta und Las Vegas und schaut, ob sich da ein Geschäft auftun läßt. Die nächste Pflichtverteidigung steht frühestens im Februar an. Davor noch einmal, danach höchstens noch zweimal will der Kämpfer Maske in den Ring gehen, um dann, ungeschlagen abgetreten, das Produkt Maske dauerhaft am Markt zu halten.

Schaden muß dieses Produkt noch keinen genommen haben. Auch der sogenannte Boom nicht. Der Kampf wird als sehr guter in Erinnerung bleiben, hat jedoch eine endgültige Etablierung in jener neuen Zielgruppe Mittelschicht, die den blutarmen Faustkampf ebenbürtig etwa dem Musical als zeitgenössisches Volksvergnügen schätzt, nicht gebracht. Nicht zuletzt, weil man nun argwöhnen kann, daß der Anachronismus Rocchigiani den ultimativen Instinkt beliefert, den der klassenlose Maske überwunden zu haben schien.

Aber ein Zustand des Ungeklärten ist allemal die beste Voraussetzung für, na? Jawoll: Einen Rückkampf. Rocchigiani, der 1,15 Millionen Mark, mithin soviel wie er „noch nie auf einem Haufen gesehen hat“ (Nartz), mitnehmen durfte, hätte nichts dagegen. Sauerland sagt: „Revanche jederzeit“, was alles und nichts heißen muß. Und Maske: will darüber nachdenken. Dann muß man auch sehen, wo das Geschäft ist. Wie die Quoten waren. Ob etwa RTL es wünscht.

„Es hieß immer“, hat Graciano Rocchigiani gesagt, bevor er sich davonmachte, „daß das für mich der letzte Kampf ist. Aber wie man sieht, täuschen sich die Medien auch mal.“ Aber, bitte: Wer den Donnerhall für Axel Schulz durch die Halle brausen hörte, ahnt, wie sehr dolchgestoßene Helden des Volkes derzeit en vogue sind. Fast noch mehr als allzu klug daherparlierende Fleißarbeiter. Als alles vorbei war, leuchteten einsam von der Hallendecke ein „Danke, Henry“, und eine „Danke, Rocky“. Und dann war der Henry schon verglüht, doch der Rocky glimmte immer noch. Bedeuten muß das nichts.