Atemlose Passionsgeschichte

■ Israeltage: In „Aviyas Sommer“ beschwört die israelische Autorin und Schauspielerin Gila Almagor die Macht der Erinnerung herauf. Heute im Packhaustheater

„Den Holocaust habe ich mit der Muttermilch eingesogen“, heißt es bei Gila Almagor, einer der berühmtesten israelischen Schauspielerinnen. Zur Zeit gastiert sie im Rahmen der Bremer Israeltage mit dem autobiographischen Stück „Aviyas Sommer“ im Packhaustheater. Über diesem Soloabend, der Gila Almagor ebenso als Schriftstellerin wie als Schauspielerin zeigt, steht die Macht der Erinnerung. Die nicht verheilten Narben, die dem jüdischen Volk in diesem Jahrhundert zugefügt worden sind, leben in diesem Stück im Allerprivatesten fort, in der Beziehung zwischen Mutter und Kind.

Nur einen Sommer lang kann die kleine Aviya in der Nähe ihrer Mutter sein. Nach den Jahren im Heim erlebt sie nun die krassesten Wechsel: Augenblicke der Vertrautheit und der Idylle, die immer wieder unterbrochen werden von schrecklichen Einbrüchen in die familiäre Sicherheit. Für die Zehnjährige völlig verblüffend, kommen diese Störungen nicht nur von der Außenwelt, sondern auch von innen. Noch immer leidet die Mutter an dem Erlebten, hat Zusammenbrüche und muß wieder in die Klinik eingewiesen werden. Mit Unverständnis reagiert die nächste Umgebung auf die Situation.

In diesem 1986 entstandenen Text wird deutlich, daß die deutschen Überlebenden des Holocaust zu Anfang in Israel auf vielfältige Schwierigkeiten stießen. Weil sie eben auch Deutsche waren. Schließlich kamen sie nicht als Zionisten, sondern als Flüchtlinge ins Land.

Dafür steht auch die Geschichte der Gila Almagor, die sich zur zweiten Generation der Opfer rechnet. Bei ihrer Geburt in Israel ist die polnische Mutter 23 Jahre alt, auf sich allein gestellt und der Landessprache nicht mächtig. Damit nicht genug, stirbt vier Monate vor der Geburt des Kindes der deutsche Vater. Seitdem geistert er als Ikone durch Erinnerungen und Träume. Im Stück läßt Gila Almagor die kleine Aviya ein paar gerettete Fotos vom Vater als die größte Kostbarkeit hüten, die sie in einem alten abgeschabten Pappkoffer aus dem Kinderheim mitbringt. Am Ende ihrer Reise erntet sie wenig Verständnis für ihre Anhänglichkeit an einen deutschen Vater. Noch weniger Unterstützung erfährt die Mutter, die ihre Kriegserlebnisse auch Jahre später noch nicht bewältigt hat. Letztendlich bringt ein hingeworfes Wort einer Nachbarin das labile Gleichgewicht der Mutter völlig aus der Balance. Und so endet Aviyas Sommer mit der Mutter abrupt mit deren Einweisung in eine Klinik.

Gila Almagor spielt seit ihrem 17. Lebensjahr in Israel Theater. Mehrmals schon wurde sie als beste Schauspielerin für Film und Bühne ausgezeichnet. Ihre Kindheitserinnerungen hat sie sich im Jahre 1986, nach einer langen Phase der Depression, von der Seele geschrieben. Obwohl die Schauspielerin sich zum ersten Mal als Autorin versucht, wurde das Buch auf Anhieb ein Bestseller. In Israel war die Zeit reif für die Themen der zweiten Generation der Opfer. Die Bühnenfassung wird jedes Jahr im April zum Jahrestag der Shoa gezeigt.

Im Bremer Packhaustheater gewann der Abend seine Überzeugungskraft durch die Authentizität des Dargebotenen, der Verbindung zwischen Schauspielerin, Hauptfigur und Autorin. Selbst die simultan eingesprochene Übersetzung konnte dem nichts mehr anhaben. Nur die Atemlosigkeit der Dolmetscherin machte dem Zuhörer bewußt, in welch rasendem Tempo Gila Almagor in 80 Minuten ihre Geschichte rekapitulierte.

In Deutschland hätte man den getragenen Ton, die pathetische Trauerarbeit erwartet, hier sprangen die Erinnerungen zurück wie ein vom Laufen atemloses Kind. Anzeichen nicht nur für eine spezifisch israelische Auffassung von lebendiger Schauspielkunst, sondern auch dafür, daß Gila Almagor selbst noch immer mit „Aviyas Sommer“ beschäftigt ist, einer Geschichte aus dem Israel der Nachkriegszeit, die auf deutschen Bühnen so noch nie zu hören war.

Susanne Raubold

Gila Almagor gibt „Aviyas Sommer“ noch heute und morgen im Packhaustheater um 20 Uhr