Blutrache im Landgericht

■ Schüsse im Gerichtsflur: Ein lebensgefährlich verletzter Angeklagter und triumphierende Täter

Das altehrwürdige Bremer Landgericht, gestern morgen kurz nach zehn: Zwei Schüsse hallen durch die Gerichtsflure, soeben hat ein junger Mann einen Angeklagten in den Kopf geschossen und ihn lebensgefährlich verletzt. Und als der Täter schon überwältigt ist, nimmt dessen Mutter die Waffe und drückt noch einmal auf das am Boden liegende Opfer ab. Die Pistole geht allerdings nicht los, Sicherheitsbeamten können auch die Frau überwältigen. Ihre Angehörigen triumphieren, einige spucken auf den schwerverletzten Mann.

Drei Ärzte, die als Gutachter in dem Verfahren aussagen sollten, versorgen ihn. Der Mann wird sofort in ein Krankenhaus gebracht, sein Zustand ist mehr als kritisch. Eine Kugel hat den Schädel glatt durchschlagen, die zweite blieb im Hals stecken. Am späten Nachmittag wird der Mann operiert. Ein Justizsprecher gab ihm gestern nachmittag nur wenige Überlebenschancen.

Es war gerade Verhandlungspause in einem Verfahren gegen den 28jährigen irakischen Asylbewerber Rashid C. Der stand vor Gericht, weil er im November letzten Jahres einen türkischen jungen Mann umgebracht hatte, auf offener Straße, mit 20 Messerstichen. Ein Liebesdrama: Rashid C. behauptet, ihm sei von der türkischen Familie Y. aus der Nachbarschaft in der Asylbewerberunterkunft die Tochter zur Frau versprochen worden. Doch plötzlich sei von dem Versprechen gar keine Rede mehr gewesen, plötzlich sollte die 17jährige einen anderen heiraten. Rashid C. stieß wütende Morddrohungen gegen die Familie aus, besonders gegen einen der vier Brüder, Cemil Y.

Die Wut des Rashid C. brach sich schließlich Bahn. Als Cemil Y. am 15. Novemer seinen Wagen auf dem Parkplatz der Unterkunft abstellte und noch ein wenig mit seinen Brüdern plauderte, griff Rashid C. an. Mit einem 20 Zentimeter langen Messer stürzte sich C. auf den jungen Mann, stach ihm zweimal in den Rücken, der Verletzte konnte sich losreißen, floh auf die belebte Schwachhauser Heerstraße. C. stürzte hinterher, holte sein Opfer ein und stach in wilder Wut weiter drauflos, in den Oberkörper, ins Gesicht. Selbst als der Mann schon am Boden lag, raste C. weiter. 20 zum Teil großflächige Schnitt- und Stichverletzungen stellte die Polizei damals fest. Rashid C. sei danach aufgestanden, hatten Zeugen beobachtet, habe das Messer wieder zugeklappt und sei ruhigen Schrittes davongegangen. Das Opfer starb keine Stunde nach dem Angriff im Krankenhaus.

Rashid C. hatte flüchten können, er wurde jedoch keine zwei Wochen nach der Tat in Flensburg verhaftet. Und er gestand die Tat. So kam es gestern morgen zum Verfahren vor dem Schwurgericht. Nebenklägerin: die Mutter des Opfers.

Eine ganz normale Verhandlung, sieht man vom Verhandlungsgegenstand einmal ab – bis zur ersten Pause. Der Angeklagte klagte über Kopfschmerzen. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, die Gerichtsreporter zum Kaffeetrinken. Sicherheitsbeamte wollten Rashid C. bis zur erneuten Verhandlungsaufnahme in eine Zelle bringen. Doch als sie den Angeklagten aus dem Gerichtssaal heraus über den Flur führen wollten, passierte es: Die Familie des Ermordeten, ein knappes Dutzend Menschen, hatte auf dem Flur gewartet, einige sollten noch als ZeugInnen aufgerufen werden, auch der 19jährige Bruder

. Der sprang auf, als der Angeklagte aus der Tür kam, zog eine Pistole und drückte zweimal ab. Und nur einem Zufall ist es zu verdanken, daß die Mutter des Ermordeten nicht auch noch zur Schützin wurde. Die Waffe funktionierte nicht. „Es war eine Stimmung des Triumphes“, sagte gestern Rechtsanwalt Gerhard Baisch, der Rashid C. vertritt, sichtlich mitgenommen von den Ereignissen des Vormittags. Er hatte direkt neben seinem Mandanten gestanden, als der getroffen wurde. „Einige haben ihn auch noch angespuckt.“ Der Täter wurde an Ort und Stelle verhaftet, die Mutter ebenfalls. Heute soll über ihr weiteres Schicksal entschieden werden.

Für den Täter war es ein Kinderspiel, die Waffe ins Gerichtsgebäude zu schmuggeln – Kontrollen gab es keine. „Wir hatten keine Anhaltspunkte, daß so etwas passieren könnte“, sagte gestern der Bremer Generalstaatsanwalt Hans Janknecht. „Es gab keine Kontrollen, weil es eben keinen Anlaß dazu gab.“ Die seien in einem Gerichtsgebäude ohnehin nur schwer durchführbar und sehr personalintensiv. „Fast unmöglich“, meinte Janknecht. Schließlich müsse die Öffentlichkeit der Verfahren gewährleistet bleiben. „Taten wie diese sind in keinem Gericht auszuschließen.“

Jochen Grabler