„Mach kai so Theat'r“

Familiäres Ambiente und kundiges Publikum beim wichtigsten Meeting der Mehrkampfszene  ■ Aus Götzis Albert Hefele

„Paul Meier, was soll man dazu sagen?“ sagt Paul Meier und schüttelt entsetzt den Kopf. Elfzwei und Zerquetschte über hundert Meter, der Auftaktdisziplin des Zehnkampfes, das ist nix. Jedenfalls für einen, der vor zwei Jahren die Hundert in Götzis noch in 10,53 gelaufen ist und der 1993 bei der WM in Stuttgart Dritter war. Für einen, der nach 21 Monaten Welttkampfpause sein Comeback plant. Was im Falle Meier mindestens 8.000 Punkte bedeutet. 8.000 Punkte mit einer solchen Hundert-Meter- Zeit?

Daß es nach zehn Disziplinen doch noch 8.149 Punkte und ein achter Platz geworden sind, liegt natürlich in der Hauptsache an Paule Meier. Der ist nicht irgendein Zehnkämpfer, er ist einer von denen, die das Zeug zum Champion haben. So einer gibt nicht auf. In Götzis schon gar nicht. Denn auch der kleine Ort in Vorarlberg ist etwas Besonderes. An 363 Tagen für ein paar Touristen, die die malerische Natur zu schätzen wissen. An zwei Tagen im Frühling für die Elite der Mehrkämpfer, die sich hier jedes Jahr zu ihrem wichtigsten Wettkampf abseits der ganz großen Leichtathletik-Events treffen. Mit wenigen Ausnahmen waren alle schon mal da, die sich der Tortur verschrieben haben, die am Ende die Königinnen und Könige der Leichtathletik gebiert. Daley Thompson und Burglinde Pollak, Guido Kratschmer und Jackie Joyner-Kersee, Sabine Braun und Eduard Hämälainen. In Götzis nahmen Karrieren ihren Anfang. Ehrlich: Wer hat vor dem Wochenende schon mal was von den aktuellen Siegern Ghada Shouaa aus Syrien beziehungsweise Erki Nool aus Estland gehört?

Wie geht das? Tun die Organisatoren den Sportlern was in den Saft? Renate Öhy ist die Pressechefin und schwört, daß dem nicht so ist. Natürlich tun die Veranstalter ihr Bestes, damit sich ihre Gäste wohlfühlen. Ein Ausflug, man feiert ein bißchen. Viele sind schließlich mittlerweile gute Bekannte. Aber sonst? Außer der üblichen Gastfreundschaft der Vorarlberger nichts Besonderes. Liegt es am Geld? Geld gibt es natürlich. Die ersten acht bei den Damen und Herren können zwischen 1.000 und 10.000 US-Dollar mit nach Hause nehmen. Höhere Siegprämien zahlt im Zehnkampf niemand. Aber: kein Schilling fürs bloße Antreten. Rein rechnerisch gehen die meisten der über 70 Athletinnen und Athleten leer aus. Trotzdem kommen sie jedes Jahr wieder. Was ist also dran an diesem Nest in Österreich mit seinem schnuckeligen Mösle-Stadion?

Zehnkämpfer Michael Kohnle stellt Vermutungen an: „Natürlich ist die Anlage sehr gut.“ Schon, schon. Aber gute Anlagen gibt es haufenweise. Was noch? „Die Stimmung. Ein wirklich fachkundiges Publikum, das die Leistungen, die in einem Zehnkampf erbracht werden, zu schätzen weiß ...“ Endlich einmal verblassen die Mehrkämpfer neben den hochgezüchteten Spezialisten nicht mehr zu Pausenfüllern, die allerhöchstens während ihres mörderischen Schlußlaufes mit gesteigertem Publikumsinteresse rechnen können. Wenn sie wie vom Blitz erschlagen nach zwei Tagen Hochleistungssport hinter der Ziellinie zusammensacken. Eine schreiende Ungerechtigkeit. Die Mehrkämpfer haben ein grandios besetztes Heldenstück zu bieten, und dauernd rennen marktschreierische Gecken über die Bühne und stehlen ihnen die Pointen. Und die Gagen.

In Götzis harrt ein zwar kleines, aber sehr sorgfältig ausgestattetes Theater der Aufführung des Dramas mit dem Titel „Siebenkampf“ oder „Zehnkampf“. Gefüllt mit Zuschauern, die wissen, was es bedeutet, die Königsdisziplinen der Leichtathletik an zwei Tagen zu absolvieren. Und der, der es nicht weiß, ahnt es spätestens dann, wenn er die Erschöpfung und die Leidenschaft beobachten kann, die grenzenlose Enttäuschung und den explodierenden Jubel. Hautnah und zum Anfassen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

In Götzis sind die Sportler keine buntgekleideten Schemen, die weit weg und anonym auf der Bahn oder auf dem Rasen herumturnen. Und die nach dem Ende der Vorführung in den Katakomben eines Riesenstadions verschwinden. Unerreichbar wie der Mond für die Masse des Publikums. Im Mösle- Stadion ist das anders. Da klettern schon mal zwischendurch kleine Buben über die Bande und lassen sich rasch ein Autogramm aufs T- Shirt malen. Oder man gesellt sich neugierig zu den Trainern und lauscht ein wenig. Bei Siegfried Rabe zum Beispiel, der sagt, was er an Götzis bemerkenswert findet: „Nirgends auf der Welt haben die Zuschauer die Möglichkeit, Weltklasseleistungen so locker aus der Nähe zu beobachten.“ Und die, die sie abliefern, natürlich. Wer hätte gedacht, daß Siebenkämpferinnen solche hübschen Knöchel haben? Wo sieht man schon Paul Meier zwischen zwei Diskuswürfen mit der Freundin turteln? Das macht Spaß und die Athleten wieder zu Menschen.

Obwohl die meisten schon längst zum erweiterten Freundeskreis gehören. Man trifft sich schließlich jedes Jahr und hat dem einen oder anderen schon mal zugenickt, wenn man sich begegnet ist. Darum würde es in Götzis niemandem einfallen, einen Sportler, eine Sportlerin anzufeuern, weil sie der oder jener Nation angehört. Man freut sich mit Patricia, weil man weiß, wie schwer ihr diese persönliche Bestleistung gefallen ist, und findet Robert gut, weil er so tierisch brüllt beim Speerwerfen. Manchmal muß man auch streng sein. Wie der ältere Herr aus der Schweiz, der den nach drei Fehlversuchen im Stabhochsprung geknickten Mike Smith resolut wieder aufrichtete: „Mach kai a so a Theat'r, Maik! G'winnsches halt im näxschta Johr.“