Ein Land voller Untertanen

In Weißrußland hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion kaum etwas geändert / Willig ordnet man sich dem großen Bruder Rußland unter  ■ Aus Minsk Boris Schumatsky

Die älteste öffentliche Toilette von Minsk wurde 1884 gebaut. Kurz nach der Oktoberrevolution hatte hier Volkskommissar Swerdlow während eines Staatsbesuchs seine Notdurft verrichtet. Heute rückt der solide zweistöckige Pavillon wieder ins Zentrum politischer Aktivitäten.

Junge Leute versammeln sich im anliegenden Park. Ein Schwarzbärtiger mit Sonnenbrille klettert auf das gewölbte Toilettendach und läßt die alte Sowjetfahne hissen. Er stimmt die sozialistische weißrussische Hymne an, von unten antwortet lachend der Chor. Man klatscht Beifall, die rotgrüne Flagge wird vom Dach geworfen und zerrissen. Eine junge Frau greift nach dem Stück mit Hammer und Sichel, dann zündet sie es mit ihrem Feuerzeug an. Man skandiert: „Es lebe Weißrußland!“

Seit dem Zerfall der UdSSR symbolisierte die nationale rotweiße Fahne die Unabhängigkeit dieser westlichen Sowjetrepublik. Aber die meisten Weißrussen träumten von guten alten Sowjetzeiten, ebenso wie auch ihr Präsident, Alexander Lukaschenko. Das jüngste Referendum ebnete ihm den Weg zur Alleinherrschaft. Inzwischen ist er ins ehemalige Arbeitszimmer des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei eingezogen. Auf dem Fahnenmasten des Parlamentsgebäudes ließ er die sowjetische Fahne hissen – freilich ohne Hammer und Sichel. So hatten es die Weißrussen auf Wunsch ihres Präsidenten beim Referendum vor zwei Wochen beschlossen. Dagegen zu protestieren wagten nur ein paar studentische Organisationen, Anarchisten und die drei Mitglieder zählende maoistische „Rote Junta“.

Knapp zweihundert Leute marschieren mit den Händen hinter dem Rücken am Präsidentenpalast vorbei, vom frisch renovierten Panzer T-34 zur Swerdlow-Toilette. Die Polizei schaut tatenlos zu. „Es war meine Idee“, erzählt Oljeg. „Eine echt amüsante Protestaktion. Wir zeigen, daß wir so etwas wie politische Häftlinge sind. Doch leider treiben die Nationalisten hier eine Effekthascherei“, fügt der Anarchist hinzu, als über der Toilette die Sowjetfahne erscheint.

Ein Bus mit Omonowzi, Spezialpolizei, kommt angefahren. Mit der ruhigen Protestaktion ist es nun vorbei. Die jungen Leute werden durch den Park gejagt, auf den Boden geworfen und mit Füßen getreten. „Wir werden euch in die Gaskammer stecken!“ schreit ein Omonowez. „Das haben doch die Faschisten gemacht“, erwidert eine Studentin. „Und was sind wir denn?“ sagt der Omonowez. „Wir sind Faschisten. Es ist vorbei mit eurer Demokratie.“

Nur knapp konnte Oljeg entkommen. Die Omonowzi transportieren dreißig Festgenommene ab, im Park spazieren wieder Pärchen und Babuschkas mit ihren Enkelkindern. „Heute ist unsere Gesellschaft um zehn Jahre zurückgeworfen worden“, sagt Oljeg. „Unsere Demokraten sind schlechte Bolschewisten. Nach ihrer Wahlniederlage haben sie eine Woche lang nichts getan und nur getrunken. Enttäuscht ist er trotzdem nicht. Der 20jährige stilisiert sich zu einem coolen Guerillero. „Ich gehe in den Untergrund. Im Wohnheim können sie mich schnappen.“ Sein Kommilitone will auch nicht nachgeben: „Wir werden Minsk in Paris 1968 verwandeln.“ Die Passanten schenken den Studenten keine Aufmerksamkeit. Der Milizposten vor dem T-34 auch nicht.

Weißrußland ist das Land der Milizionäre. In der Hauptstadt Minsk stehen die Ordnungshüter an jeder Ecke. Fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetsozialismus herrscht hier eine sozialistische Ordnung. Als wäre die Zeit stehengeblieben: Frauen in Minsk tragen die Mode des vergangenen Jahrzehnts, die Männer mit ihrem kurzen Haarschnitt sehen aus, als seien sie gerade aus der Armee entlassen worden. Schulmädchen tragen einheitliche Uniformen mit weißen Schürzen. Die wenigen langhaarigen Studenten fallen aus diesem Bild der Ordnung heraus.

Als ehemaliger Direktor eines „sowjetischen landwirtschaftlichen Betriebes“ verwaltet Präsident Lukaschenko sein Zehn-Millionen-Einwohnerland wie eine Kolchose. In den Amtszimmern sitzen nur seine Leute. Was einer von ihnen sagt, ist in Weißrußland immer noch Gesetz. „Wenn ihr nicht richtig abstimmt“, so soll einer von ihnen den Bauern auf dem Land gesagt haben, „dann kriegt ihr kein Heu und keine Pferde zum Pflügen.“ Beim Referendum über die Annäherung an Rußland und die außerordentlichen Vollmachten des Präsidenten haben die Weißrussen „richtig abgestimmt“.

Die Angst vor den Leuten Lukaschenkos sitzt tief. Bei Konstantin zum Beispiel, einem ehemaligen Komsomol-Funktionär. Der 40jährige gehört der Generation an, die in Rußland noch während der Perestroika die kommunistische Nomenklatura verlassen und eigene Firmen eröffnet hat. In Weißrußland war dies jedoch nicht möglich. Bis heute ist Konstantin daher in der Jugendarbeit tätig, seine Statements unterschieden sich kaum von denen des Präsidenten. Erst als das Tonband abgeschaltet ist, stellt er eine überraschende Gegenfrage: „Wird die politische Verfolgung in Weißrußland bald wieder möglich sein?“

Doch noch ist Belarus kein Polizeistaat. Vielleicht, weil die Nomenklatura dies bisher nicht nötig hat. In der Bevölkerung herrscht Apathie. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet 7 Mark, im Durchschnitt verdient man etwa 50 Mark. Das reicht nur knapp zum Überleben. Die Reformen entwickeln sich im Zeitlupentempo: wofür Rußland ein paar Jahre brauchte, dauert in Weißrußland fast schon zehn.

Die Belorussen haben für die wirtschaftliche Integration mit Rußland gestimmt, weil es den Russen wirtschaftlich besser geht. „Wir haben hier fast Moskauer Preise“, erzählt der Arbeiter Semjon, „verdienen aber nur die Hälfte.“ Vor fünf Jahren noch, geschweige denn zu Sowjetzeiten, war der Lebensstandard in Weißrußland wesentlich höher als in Rußland oder in der Ukraine. Man glaubt der Regierungspropaganda, die heutige Krise sei lediglich ein Ergebnis des Zerfalls gesamtsowjetischer Ökonomie. „Ich habe für Rußland gestimmt“, sagt Semjon. „Warten wir mal ab, sobald Jelzin weg ist, kommt alles schon wieder in Ordnung. Wir werden wieder Brüder.“ Die Weißrussen wollen die Integration mit einem Rußland, das es nicht mehr gibt.

Die stärksten Kontrahenten des Präsidenten sind die Nationaldemokraten aus der Belorussischen Volksfront. „Uprawa“, ihr Hauptquartier, liegt neben der zentralen Milizakademie. Es ist einer der wenigen Orte in Minsk, wo man konsequent weißrussisch spricht. „Für die meisten Belorussen war ihre Sprache lediglich ein örtlicher Dialekt“, erzählt die Auslandssprecherin Valentina Trygubowich. „Man war gezwungen, russisch zu sprechen. Ich erinnere mich noch, wie mich ein Funktionär anbrüllte, als ich ihn auf belorussisch ansprach: Sie sollen ,normal‘ sprechen! Übrigens war er selber kein Russe.“ Valentina spricht Russisch wie eine Radiosprecherin, Belorussisch mußte die 40jährige Kunstwissenschaftlerin selber lernen. Daß heutzutage nur wenige Intellektuelle die Sprache ihres Landes beherrschen, sei eine Folge „zweihundertjähriger russischer Okkupation“.

Unter den postsowjetischen Staaten hat Weißrußland die meisten Probleme mit seiner „nationalen Wiedergeburt“. Im Mittelalter war es ein wichtiges politisches Zentrum Osteuropas. Weißrussisch war die Staatssprache des „Magnus Ducatus Lithuaniae et Russia Alba“, des weißrussisch-litauischen Fürstentums, das sich vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Es war auch die dritte Sprache nach Deutsch und Tschechisch, in die die Bibel übersetzt worden war. „Wir bauten Kirchen und Klöster, als in Moskau nur Bären herumliefen“, behauptet Valentina. Moskowiter mag sie offensichtlich nicht. In einem brutalen Eroberungskrieg hatte der Zar Alexej der Stille fast die Hälfte der weißrussischen Bevölkerung vernichtet. Später wurde selbst die belorussische Sprache verboten, und das Land wurde zur „Nordwestlichen Region des Russischen Reiches“.

Fast 80 Prozent der Bevölkerung Weißrußlands sind heute ethnische Belorussen, doch für die meisten von ihnen ist ihre Nationalität lediglich ein Vermerk im Personalausweis. Die Politik der „Belorussifizierung“ der letzten vier Jahre stieß auf stummen Widerstand. Die Mütter wollten nicht, daß ihre Kinder nationale Schulen besuchten. Für die Physiklehrer war es fast unmöglich, die komplizierten Begriffe ins Belorussische zu übersetzen.

Damit hängen die Mißerfolge demokratischer Reformen in Weißrußland zusammen. Die osteuropäischen Volksfronten und Bürgerbewegungen benutzten die nationalen Gefühle und antirussischen Ressentiments als Antrieb für demokratische Reformen. Allein in Weißrußland hat es nicht funktioniert. „Unser größtes Problem ist“, sagt Valentina, „daß Menschen, die sich für Belorussen halten, eine Minderheit in ihrem eigenen Staat sind.“

Die Volksfront versucht, nationale Gefühle wiederzubeleben. Sie plädiert auch für Demokratie und freie Marktwirtschaft, findet aber im Land keinen Widerhall. Das freiheitsliebende weißrussische Volk, von dem Valentina und ihre Kampfgenossen träumen, gibt's einfach nicht.

Die Universität von Minsk ist eine der wenigen Inseln der Weltoffenheit – und zugleich der nationalen Wiedergeburt. In der Hauptstadt unterrichten Dozenten aus Europa und den USA. „Ist der neue Lektor ein Russe?“ will eine junge Studentin wissen. Gleich danach jedoch korrigiert sie sich: „Ich meine: Kommt er aus Weißrußland?“ Früher galt die Bezeichnung Russe zugleich für ethnische Russen und Belorussen.

„Nach dem Referendum hat sich bei uns viel verändert“, sagt der russische Student Pawel. „Die ganze Fakultät ist in Aufruhr. Heute hat mir einer gesagt ,Russian go home‘. Vielleicht war das ein Witz, doch jetzt fühle ich mich verpflichtet, immer zu betonen, daß ich Russe bin.“ – „Keiner hält dir vor, daß du es bist“, tröstet Sweta ihn. „Wir denken nicht mal daran, die Russen zu vertreiben. Das tun nur die Esten.“

Die Studenten diskutieren über Politik. „Unser Problem“, sagt Pawel, „ist, daß wir gewöhnt sind, unter der Fuchtel zu stehen.“ – „Russen sind es gewöhnt“, erwidert Sweta empört, „wir nicht. Du darfst es nicht vergleichen. Belorussen sind ein freies Volk. Bevor die Russen kamen, kannten wir keine Leibeigenschaft. Deswegen heißen wir auch weiße, freie Russen.“ Dies ist freilich eine Beschönigung der Tatsachen. Weiß nannten die Nachbarn die Belorussen nicht wegen ihres Freiheitsdrangs, sondern weil ihre Vorfahren hellblond waren. Durch das Ergebnis des Referendums fühlen sich die national denkenden Weißrussen nun erniedrigt. Sweta zitiert einen Führer der Volksfront: Wenn Sie nicht wissen, wie Sie Ihr Kind erziehen sollen, erziehen Sie es zu einem Nationalisten. „Früher dachte ich, das ist Chauvinismus und Nationalismus. Heute stimme ich dem zu. So kann mein Kind zumindest sein Gesicht retten.“