Pfefferminz bis Mitternacht

Die Bolivianer müssen sich im Ausnahmezustand einrichten, weil Gewerkschaften und Regierung auf Konfrontation setzen, statt zu verhandeln  ■ Aus La Paz Uli Goedeking

Eine Hand klatscht gegen die Windschutzscheibe. „Hijo de puta“, Hurensohn, grölt es hinter dem Taxi her. Der Fahrer beschleunigt und versucht, der nächsten Gruppe sichtlich angetrunkener Herren auszuweichen, die ihn, mitten auf der Fahrbahn heftig winkend, zum Anhalten zwingen wollen. Fünf Minuten sind es noch bis Mitternacht an diesem kalten, windigen Freitag abend auf dem Prado, dem Boulevard der bolivianischen Hauptstadt La Paz.

Noch fünf Minuten darf das Taxi unterwegs sein, dann greift der Ausnahmezustand, den die bolivianische Regierung am 18. April ausgerufen hat. Wer kein Taxi bekommt, muß laufen, von zwölf bis sechs Uhr herrscht Fahrverbot. Auch Fußgänger dürfen nur noch in Gruppen von höchstens drei Personen unterwegs sein. Trotz des Ausnahmezustands sind auch an diesem „viernes de soltero“, dem „Freitag der Junggesellen“, jede Menge Männer unterwegs. Freitags vergißt mann Frau und Familie und geht mit Freunden saufen. Aber nicht einmal Durchmachen hilft, die Kneipen müssen schließen, die Nacht ist vorbei, bevor sie richtig angefangen hat.

Noch sitzen die „cholitas“ auf dem Bürgersteig, die Aymara- Frauen in ihren glockenförmigen Röcken, eingehüllt in mehrere Schichten Wolle. „Cómprame, caserito“, kauf noch was! Sie warten auf die letzten Kunden, die auf dem Heimweg Zigaretten, Schokolade oder vielleicht ein Pfefferminzbonbon für frischen Atem mitnehmen wollen. Die Pappkartons stehen schon bereit, in die sie ihre Ware verpacken werden, um sich dann auf den Heimweg zu machen.

Um Mitternacht erstirbt das Leben auf den Straßen

Zu Fuß, irgendwo an einen der Berghänge um das Stadtzentrum herum, an denen die kleinen Lehmziegelhäuser kleben, die oft nur über steile Treppen erreichbar sind. An einem normalen Freitag würden sie bis in die frühen Morgenstunden auf dem staubigen, abgetretenen Pflaster sitzen, das schlafende Kind in bunte Tücher eingepackt auf dem Rücken. Jetzt haben sie nur noch eine Viertelstunde, dann ist das Geschäft vorbei.

Niemand weiß so recht, wozu die Restriktionen noch gut sein sollen. Vor dem 18. April hatten die Gewerkschaften – und allen voran die seit Mitte März gegen die von der Regierung geplante Bildungsreform streikenden Lehrer – in La Paz fast täglich den Verkehr lahmgelegt. Die Kokabauern brachte die Regierung gegen sich auf, weil sie die Pflanzungen reduzieren will, außerdem ging es den Gewerkschaften um Lohnerhöhungen. Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada rief am 18. April den Ausnahmezustand aus, nachdem der Gewerkschaftsdachverband COB nach zähen Verhandlungen ein vorläufiges gemeinsames Papier doch noch abgelehnt hatte.

Über 300 Gewerkschaftsführer wurden verhaftet und noch in der Nacht in Verbannungsorte gebracht: entlegene Militärgarnisonen im östlichen Tiefland und in der eiskalten Grenzregion zu Chile. Seitdem ist es ruhig in La Paz, Grund genug für die städtische Mittelschicht, den Ausnahmezustand als unappetitliche, aber notwendige Maßnahme zu begrüßen. „Endlich kann ich mittags wieder zum Essen nach Hause fahren“, freut sich ein Büroangestellter. Für ihn beschränken sich die Unannehmlichkeiten auf das nächtliche Taxiproblem, sind doch die sonst üblichen Begleiterscheinungen des Ausnahmezustands ausgeblieben: Weder verhängte die Regierung eine totale Ausgangssperre, noch mußte er sich über zensierte Zeitungen ärgern. Kein Wunder, war es doch diesmal nicht nötig, die Volksmassen am Protest zu hindern. Sosehr der Ausnahmezustand auf Kritik stieß, hielt sich jedoch auch die Sympathie mit den Gewerkschaften in Grenzen. Zu kompromißlos, meinen viele, setzten sie auf Konfrontation.

„Er hätte den Ausnahmezustand nicht ausrufen dürfen“, seufzt indes Lidia Choque Mamani, „schließlich leben wir jetzt in einer Demokratie. Er hätte verhandeln sollen.“ Sie selbst kann normal arbeiten. Fünf Stunden am Tag kocht, putzt und wäscht sie als Hausangestellte einer Familie im Stadtzentrum und kommt nachmittags rechtzeitig wieder nach Hause. Ihr Mann allerdings, Angestellter beim bolivianischen UNO- Büro, übernachtet oft dort: „Wenn er bis spät abends Telefon und Funk bedienen muß, kriegt er keinen Bus mehr, besser, wenn er gleich dort bleibt. Wer weiß, ob es auf dem Weg Ärger mit der Polizei gibt.“ Der Fußweg ist weit nach Cristo Rey, zu deutsch „König Christus“, einem der Viertel weit oberhalb des Zentrums auf über 3.700 Meter Höhe, in dem allein der Blick auf den schneebedeckten Illimani königlich ist.

„Natürlich hätten wir gerne besseren Unterricht für unsere Kinder, aber viele haben Angst, daß es bald nur noch Privatschulen gibt.“ Lidia Choque ist skeptisch gegenüber der Bildungsreform, gegen die die Lehrergewerkschaft bis zum 18. April so vehement kämpfte. Die Regierung will nur die kostenlose Grundschuldbildung garantieren. „20, 30 Bolivianos würden die meisten ja zahlen. Aber wer kann noch die Kinder auf die Schule schicken, wenn jedes Kind 80 oder 100 Bolivianos im Monat kostet. Und dazu die Ausgaben für Hefte, Stifte, die Kinder müssen mittags etwas essen ...“ 100 Bolivianos entsprechen über 30 Mark, viel Geld, wenn man wie Lidia Choque nur 130 Bolivianos im Monat verdient.

Vor der Angst, die Schulbildung der Kinder nicht mehr bezahlen zu können, treten die Errungenschaften der Reform in den Hintergrund, die in Bolivien durchaus Beifall finden. Vor allem die Zweisprachigkeit des Unterrichts liegt Victor Hugo Cárdenas am Herzen, dem Vizepräsidenten, der als Aymara der erste Politiker indigener Herkunft in einem hohen Staatsamt ist. Auch er, auf dessen Durchsetzungsvermögen viele Bolivianer hoffen, rechtfertigt den Ausnahmezustand. Unter dem Dauerstreik der Lehrer litten vor allem die Kinder, sagt Cárdenas. Eine radikale Führungsclique der Lehrergewerkschaft kämpfe um ihre Privilegien, sagt die Regierung. Man dürfe die großen Reformen nicht im Demonstrationschaos untergehen lassen.

Und die Regierung steht nicht allein. „Ich verteidige jederzeit meine Gewerkschaft, die Löhne sind viel zu niedrig; aber diese Führung hat keine Basis.“ Maria Elena López ist Lehrerin an einer staatlichen Schule. „Diese Bildungsreform hat viele Schwachpunkte, aber im Prinzip ist sie nötig.“ Sie spricht für viele, wenn sie über das katastrophale Niveau des staatlichen Schulunterrichts klagt.

Die Lehrergewerkschaft kämpft ohne ihre Basis

Sie ging in diesen Wochen nicht auf die Straße. Und sie war nicht die einzige. Am 1. Mai – Demonstrationen waren kurzfristig zugelassen worden – waren es gerade mal 300 Demonstranten, die die Lehrer gemeinsam mit zwei anderen Gewerkschaften auf die Beine brachten. Zwei Tage zuvor war eine vorläufige Vereinbarung zwischen Gewerkschaften und Regierung bekanntgeworden, nach der die verbannten Gewerkschaftsführer freigelassen werden, die Streiks aufhören und Verhandlungen wiederaufgenommen werden sollten. Die Miniaturdemo hielt dagegen: „Der Streik geht weiter!“ Sie setzten sich nicht durch. Eine Woche später ging es nur noch um die Löhne für März und April.

Lidia Choque steht mit ihrer Familie immer noch besser da als die meisten ihrer Verwandten. „Mein Schwager hat einen Minibus in einem Dorf hinter Patacamaya“, erzählt sie: „380 Bolivianos nimmt er sonst an einem guten Markttag mit dem Busfahren ein, jetzt sind es gerade mal 160.“ Die „Minibusse“ genannten japanischen Kleinbusse bestreiten einen großen Teil des Nahverkehrs in La Paz und aus den umliegenden Provinzen in die Stadt, so auch aus Patacamaya, gut hundert Kilometer südlich der Hautstadt. Ein Minibus ist eine Investition fürs Leben. Man nimmt Kredite auf, um endlich selbständig zu sein. Und ist der Bus erst einmal da, muß gefahren werden, was das Zeug hält, denn die Schulden drücken. „Normalerweise fährt mein Schwager um drei oder vier Uhr morgens los, sobald es Fahrgäste gibt“, so Lidia Choque, „die Bauern müssen so früh fahren, um Kartoffeln, Gemüse und Fleisch in La Paz an die Markthändlerinnen verkaufen zu können. Aber jetzt mit dem Ausnahmezustand kommen sie alle erst um sechs, sieben in die Stadt. Es ist ein Chaos, alle wollen auf einmal verkaufen.“

Auch für die Verwandten in der Stadt schafft der Ausnahmezustand Probleme: „Meine Schwiegermutter stellt Hüte her und repariert alte. Auf dem Land geben ihr die Leute die alten Hüte, und sie bringt sie ihnen an Markttagen wieder. Aber wie soll sie rechtzeitig dort ankommen? Um vier müßte sie losfahren. Es ist Erntezeit, die Bauern gehen früh am Morgen auf den Markt, um danach auf ihren Feldern arbeiten zu können. Es hat keinen Sinn mehr, zu diesen Märkten zu fahren.“

Inzwischen sind die Verbannten wieder in ihren Heimatorten, und auch Evo Morales, der Gewerkschaftschef der Kokabauern, ist seit dem 9. Mai auf freiem Fuß. Der Konflikt um die Reduzierung von 1.700 Hektar Kokapflanzungen in der Hauptanbauprovinz Chapare, von den USA bis zum 30. Juni ultimativ gefordert, bildete die zweite große Front zwischen Regierung und Gewerkschaften.

Am Problem hat sich allerdings nichts geändert: Die Kokabauern wollen weiter den Strauch mit den alkaloidhaltigen Blättern anbauen, wozu sie keine Alternative sehen. Auch die neuen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Regierung um Bildungsreform, Privatisierungen und Lohnerhöhungen stehen wieder an dem Punkt, an dem sie im April unterbrochen worden waren – nur ohne Streik. Um eine politische Lösung der Konflikte kommt die Regierung nicht herum. Aber noch will sie das Druckmittel des Ausnahmezustandes nicht aus der Hand geben. Die Choques müssen sich weiter mit dem Alltag unterm Ausnahmezustand einrichten, Sympathien gewinnt die Regierung bei ihnen damit nicht.

Die Regierung übt Druck aus, statt zu verhandeln

Ausgerechnet die, die am wenigsten damit rechneten, wurden von ihrem „Alltag“ im Ausnahmezustand angenehm überrascht. Die in entlegene Militärgarnisonen verbannten Gewerkschafter hatten nach ihrer Verhaftung durch die Polizei am 18. April das Schlimmste befürchtet. „Sie haben uns von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens mit dem Gesicht zur Wand stehen lassen“, zitiert die Tageszeitung La Razón den Bauernführer Felix Santos, „einige der Arbeiter hatten weder Socken noch Schuhe an.“

Das Vorgehen der Polizei unter Verantwortung von Innenminister Sánchez Berzain ließ Erinnerungen an die Zeiten der Diktaturen wach werden. Die Armee aber achtet auf ihren durch Drogenskandale angeschlagenen Ruf. Ihre Rolle beschränkte sich diesmal darauf, die Verbannten unterzubringen und zu bewachen. Felix Santos wurde nach San Joaquin im Tiefland gebracht. „Die Offiziere empfingen uns freundlich“, so Santos, „wir haben uns mit ihnen angefreundet, Lebenserfahrungen ausgetauscht, sie haben sogar unsere Rückkehr nach La Paz bedauert.“

Und Plácido Barón, ebenfalls von der Bauerngewerkschaft, berichtet aus Apolo im Norden des Departements La Paz: „Nach zehn Tagen haben sie uns ins Dorf mitgenommen, um an einem von den Offizieren des Bataillons organisierten Fußballturnier teilzunehmen.“ Verbannte gegen Bewacher? Die Ergebnisse des Turniers sind nicht bekannt.