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Visionen aus dem tibetischen Orakelsee

Wahl des Panchen Lama: China versucht den Einfluß des Dalai Lama in Tibet zu untergraben  ■ Aus Dharamsala Bernard Imhasly

Zwei australische Trekker, die in Tibet von ihrer vorgeschriebenen Route abgekommen waren, sahen sich im vergangenen Herbst einem merkwürdigen Schauspiel gegenüber: Auf einer Anhöhe über einem kleinen See saßen vier Mönche in vollem Ornat, mit zeremonieller Kopfbedeckung, mit Schellen und tantrischen Insignien in den Händen. Sie starrten angestrengt auf den See hinaus, dies allerdings mit einem modernen Hilfsmittel, dem Feldstecher. Das Schauspiel, begleitet von Mantras, Meditation und Gesängen, dauerte drei Tage, während denen die Gruppe von sechs weiteren Mönchen bedient wurde, darunter einem, der die ganze Zeremonie auf Videokamera aufnahm.

Die Evidenz von Teigbällchen

Als die beiden Touristen einige Tage später auf die gleiche Gruppe stießen, nahmen die Mönche sie in ihren Fahrzeugen mit. Sie erfuhren, daß es sich beim Lhama-Latso-See um den berühmten „Orakelsee“ handelte, der in der Suche nach Reinkarnationen hoher Lamas eine große Rolle spielt. Die vier Mönche waren das „Such-Komitee“, das beim Betrachten des Wassers, in dem die Vision eines goldbedachten Hauses aufscheinen soll, entscheidende Hinweise für die Bestimmung des wiedergeborenen Pantschen Lama erhalten sollte. Die Suchpartei kam aus dem Kloster Tashi Lhunpo in Shigatse.

Der Zwischenfall muß in Dharamsala, dem indischen Exil des Dalai Lama, Alarm ausgelöst haben. Er zeigte nämlich, daß die chinesischen Behörden alles daransetzten, einen Nachfolger des 1989 verstorbenen Pantschen Lama, des zweithöchsten Würdenträgers im tibetischen Buddhismus, zu bestimmen, ohne daß der Dalai Lama davon erfahren sollte.

Kurz darauf wies China das Tashi-Lhunpo-Kloster, das der Sitz des Pantschen Lama ist und jeweils die Suche nach seinem Nachfolger durchführt, an, die Reinkarnation endlich zu ernennen. Doch der Abt des Klosters erklärte sich außerstande, dies zu tun, da der Pantschen Lama ohne die Zustimmung des Dalai Lama von den Tibetern nicht anerkannt würde. Über geheime Kontakte erhielt der Dalai Lama schließlich die Liste von etwa dreißig Knaben, und unter großer Geheimhaltung führte dieser in den letzten Monaten eine Reihe von „Divinationen“ durch. Am 14. Mai gab er in einer feierlichen Zeremonie schließlich den Nachfolger des neunten Pantschen Lama, einen sechsjährigen Hirtenknaben namens Gedhun Choekyi, bekannt. Die scharfen Kontrollen der Chinesen sowie die Eile und Geheimnistuerei auf beiden Seiten zeigen, wie stark die traditionelle religiöse Hierarchie in Tibet noch verankert ist. China wollte, so der Sekretär des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, mit der Ernennung des Pantschen Lama eine Gegenfigur aufbauen, „welche die Autorität des vertriebenen Dalai Lama allmählich unterhöhlen würde“.

In einem Gespräch in Dharamsala gab der Dalai Lama zu, unter großem Druck gestanden zu sein, einen Nachfolger zu bestimmen, der außerhalb Tibets lebt. Unter den möglichen Kandidaten gab es in der Tat auch tibetische Knaben aus Ladakh, Indien und dem westlichen Ausland. Aber er beharrte darauf, „keine politische Wahl [zu] treffen. Sie sollte echt sein.“ Und diese fiel auf einen Knaben, der in Tibet lebt. „Damit liefert er“, in den Worten eines zornigen tibetischen Intellektuellen, „den Pantschen Lama an die Chinesen aus“. Das stimmt, gab Gyaltsen zu, „aber die religiöse Autorität des Dalai Lama in Tibet wird dadurch weiter gestärkt. Sie ist für unseren gewaltlosen Widerstand von entscheidender Bedeutung.“

Die chinesische Botschaft in Delhi weigerte sich, die Ankündigung nach Peking weiterzuleiten. Doch im gut funktionierenden Informationsnetz zwischen Tibetern muß die Ankündigung auch in Tibet rasch bekanntgeworden sein. Denn nur eine Woche später kündigten die Behörden in Lhasa an, daß jede öffentliche Diskussion über den Pantschen Lama verboten sei; alle Mönche und Nonnen erhielten ein Ausgehverbot. Laut unbestätigten Berichten aus Peking hat die Regierung inzwischen ihren Entscheid bekanntgegeben: Es handelt sich um denselben Knaben, den der Dalai Lama vor drei Wochen ernannt hat. Der Sprecher der tibetischen Exilregierung war darüber nicht erstaunt: „China hatte gar keine Alternative; eine andere Wahl hätte nur gezeigt, wie wenig China in Tibet in religiösen Belangen zählt.“

Weil der Abt von Tashi Lhunpo, dem Kloster, welches das Suchkomitee gestellt hatte, sich dem Verbot jeden Kontaktes mit dem Dalai Lama widersetzt hatte, befand er sich bereits seit Januar unter Hausarrest in Chengdu. Vor einigen Tagen nun ist er laut Quellen aus Dharamsala formell in Haft genommen und nach Peking verfrachtet worden. Er muß wohl dafür büßen, daß das Orakel der KP Chinas ebenfalls auf den Orakelsee schielen mußte.

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