Bitte entschuldigen Sie!

■ Kein Pardon für Ibsens „Peer Gynt“ am Bremer Theater

„Darf ich?“, ja hier ist noch Platz, ein letztes Mal den Ohrclip gerückt, in die Runde gegrüßt. Premierenspannung im Zuschauerraum. Gleich wird sich der Vorhang heben und die letzte große Inszenierung der Spielzeit 94/95 über die Bühne gehen. Ibsens „Peer Gynt“. Doch weit gefehlt: Intendant Klaus Pierwoß erklimmt die Stufen. Vor zweieinhalb Wochen sei der Hauptdarsteller Pierre Besson so schwer verunglückt, daß an sein Mitwirken an der Premiere nicht zu denken sei. Ein gesprungen ist nun kurzerhand Andreas Unglaub. Doch damit nicht genug. Minuten später findet Pierwoß es „prächtig und großartig, daß die Schauspieler des ganzen Ensembles sich darauf eingelassen haben.“ Noch prächtiger wäre es gewesen, wenn man diese Premiere verschoben hätte. Im Zuschauerraum herrscht denn auch Ratlosigkeit; war das Entschuldigung oder Warnung? Wenn sich der Vorhang zur Premiere hebt, schlägt im Theater die Stunde der Wahrheit, und die kann gnadenlos sein.

Auch Ibsens „Peer Gynt“ muß seine Erfahrungen teuer bezahlt. Wir erleben den Helden dieses Stationendramas von der Jugend bis zur Bahre. Peer ist einer, der naiv im guten Sinne ist und sich an der Weltstößt. So wird er auch als Erwachsener kaum klüger, begibt sich aber auf eine lange Suche nach dem eigenen Ich. Eine der schönsten Stationen ist der berühmte Zwiebelmonolog, den Christian Morgenstern, wie auch den gesamten Text vom Norwegischen aufs Schönste übersetzt, bringt die Symbolhaftigkeit der Ich-Suche auf den Punkt. Schale um Schale pellt Peer Gynt die Zwiebel, immer kleiner wird die Knolle, und am Ende sitzt der Sinnsucher mit leeren Händen da. Denn kernlos ist die Suche nach dem Ich, wie auch die Zwiebel.

Leider ist die Inszenierung von Piet Drescher ebenso gehaltlos. Andreas Unglaub, der am Premierenabend noch häufig im Text stockt und auch sonst eher im Bühnenbild herumsteht, gibt keinen glaubwürdigen Peer Gynt ab. Wie abgelesen wirkt sein Spiel der Titelrolle. Aber auch die Regie von Piet Drescher scheint nicht zu wissen, was sie will.

Zwar täuscht das rabiat modernistische Bühnenbild große Entschiedenheit im Zugriff vor, eingelöst wird die Versprechung nicht. Denn höchstens dekorativ wirkt es, wenn Peer Gynt, an die Stützpfeiler einer Autobahnbrücke gelehnt, die schön gereimten Verse des „nordischen Faust“ rezitiert. Wenn Peer zum Beispiel in der Sterbeszene seiner Mutter ein wenig heimelige Atmosphäre schaffen will und dabei ein Ölfaß, das man eher der tristen Bronx zuordnet als dem heimischen Kanonenofen, wirkt das ausgesprochen lächerlich.

Bis zur Pause häufen sich solche Mißgriffe, aber das Ganze hält noch leidlich zusammen. Ibsens Stück ist noch solide genug gebaut, um auch einem haltlosen Regisseur als Stütze zu dienen. Peer schliddert durch seine Jugend, enttäuscht die Mutter in seiner Nichtsnutzigkeit, wird vom Rest der Dorfgemeinschaft mißverstanden und ausgegrenzt. Dann verheddert er sich in endlosen Frauengeschichten. Von der reinen Liebe zu Solvejg tappt er vom one-night-stand mit Ingrid zu einer Affäre mit drei Sennerinnen, um dann bei der „Grünen“, einem trollhaften Wesen aus der Unterwelt ähnlich, zu landen. So weit läßt sich das Leben eines jungen Mannes auf der Bühne noch darstellen.

Aber nach der Pause bricht die mühsame Konstruktion des Abends vollständig zusammen. Nun, wo es gilt, den Lebensweg des alternden Gynt zu rekapitulieren, von seinen Abenteuern in fernen Länder zu berichten, die doch nichts anderes sind, als die Suche nach dem verlorengegangenen Ich, bricht der letzte Haltepfosten weg. Auch wenn Heiko Senst als Entertainer mit beiden Armen rudert, seine Touristenführung durch Gynts Lebensgeschichte ist nicht mehr als der ewig währende Diaabend in der VHS. Zu wenig paßt der sperrige Text zu der bemühten Regieidee, Ibsen auf amerikanisch aufzupeppen die die ganze Zeit vor der eigentlichen Bühne, vor dem eisernen Vorhang spielt.

„Aufhören!“ forderte ein Premierenbesucher „Das ist doch zu schlecht.“ Geradezu ärgerlich ist man auf den Spielmeister Tod, der hier der Knopfgießer heißt und der nach dieser Geduldsprobe seinem Kandidaten noch einmal ein paar Atemzüge zumißt. Daraus werden lange Wartezeiten, in denen das Stück partout nicht enden will. Die Quittung aus dem Zuschauerraum kommt postwendend. Kaum geht der Vorhang zu, brandet Applaus auf für die tapferen Schauspieler, den eingesprungenen Andreas Unglaub, aber Regisseur Drescher kassiert die entschiedensten Buhs.

Susanne Raubold

Nächste Vorstellung. 9. u. 10. Juni um 19.30 im Großen Haus.