piwik no script img

Istanbul calling

Tarkan ist der George Michael der Türkei, will aber groß wie Madonna werden. Die Medien bedienen kann er schon. Mit ihm an der Spitze erobert Popmusik das türkische Jugendzimmer – im zeitgemäßen Schnellverfahren  ■ Von Daniel Bax

Im letzten Sommer war er omnipräsent: auf der Straße oder im Radio, auf Plakaten, im Fernsehen oder als Star-Album am Kiosk. Seine Stimme lag in der Luft von Istanbul, Izmir und Ankara und wehte über die Badestrände der Türkei. Sein aktueller Hit erscholl vom Band, aus fahrenden Autos genauso wie an den Ständen der mobilen Kassettenverkäufer, in Straßencafés und Strandrestaurants.

Die Rede ist von Tarkan, dem Mann, dessen Markenzeichen – neben seiner Stimme – leuchtend grüne Augen und ein Drei-Tage- Bart sind. Poster mit Tarkans geheimnisvollem Blick pflastern türkische Teenagerzimmer. Tarkan ist ein Star.

Tarkan ist aber mehr als das: Er ist der erste Pop-Star der Türkei, der nach allen Regeln heutiger Professionalität vermarktet wurde – mit Video, Hitsingle, Merchandising. An seinem Image wurde sorgfältig gefeilt: Für sein zweites, 1994 erschienenes Album „Acayipsin“ wurde die Frisur nachgebessert, auf dem schwarz-weißen Cover die grünen Augen effektvoll nachcoloriert. Der Drei-Tage-Bart ist jetzt obligatorisch, seine Bühnenshow unterliegt minutiöser Choreographie. Tarkans öffentliches Auftreten ist kalkuliert rebellisch, er flucht und tanzt anzüglich. Und wenn er „Șevis benimle“ (Mach Liebe mit mir) singt, dann war das vor kurzem noch unerhört.

Bildet ein, zwei, viele George Michaels!

Die sachte Provokation gehört zum Konzept, will Tarkan doch erklärtermaßen zur „Madonna der Türkei“ werden. Zum „George Michael der Türkei“ hat er es nämlich schon gebracht, wie die Fachzeitschrift World Entertainment News Network feststellte. Mit „Acayipsin“, das sich (als Kassette) auf dem heimischen Markt mehr als 1,5 Millionen Male verkaufte, steht er für den Beginn einer neuen musikalischen Ära: Der rasante Aufstieg des erst 22jährigen ist nur die bisher auffälligste Manifestation einer regelrechten Pop-Explosion in der Türkei.

Um die Bedeutung dieser Entwicklung abzuschätzen, muß man sich klarmachen, daß es Pop-Musik im engeren Sinne bisher nicht gab in der Türkei. Erst in den letzten drei Jahren hat sich eine Pop- Szene nach westlichem Vorbild etabliert. Die Türkei holt eine Entwicklung, wie in vielen anderen Bereichen auch, im Schnelldurchlauf nach. Mit Tarkan vorneweg.

Ohne Hilfe hätte Tarkan es allerdings nicht geschafft. Den Durchbruch verdankt er maßgeblich auch Sezen Aksu, die seinen Hit „Hepsi senin mi?“ für ihn komponierte (mit dem Refrain „Șikidim“ schuf sie damit ganz nebenbei eine Art türkisches Äquivalent zu „Schubidu“). Die Rechte an dem Stück wurden in alle Welt verkauft, Versionen existieren in Spanisch, Französisch und Hebräisch.

Jung, gutaussehend, international

Sezen Aksu ist die ungekrönte türkische Pop-Königin. Sie war es, die spätestens mit ihrem Album „Gülümse“ zu Beginn der 90er Jahre den Startschuß gab für den Sieg des Pop. Epigoninnen wie Nilüfer oder Emel folgten, der Stein war ins Rollen gebracht. Heute vergehen keine paar Wochen, an denen nicht ein neues Gesicht auf dem Bildschirm und an den Kassettenständen auftaucht.

Das musikalische Rezept ist in der Regel simpel: Disco-Beat, gepaart mit orientalischen Melodien und türkischem Text, Hitparadenfutter. Die Stars heißen BenDeniz, Jale, Sertab Erener, Nazan Öncel, Çelik, Kenan Dogulu oder Burat Kut und sind vor allem eins: jung, gutaussehend, internationalem Standard entsprechend. Askin Nur Yengi erinnert mit ihren Korkenzieherlocken an Mariah Carey, Çelik gibt sich alle Mühe, wie eine dunkelhaarige Jon Bon Jovi-Kopie zu wirken. Klein-Mädchen-Idol Burak Kut ist mit 21 der wohl jüngste Newcomer. Der Sänger mit dem Babyface wird bewußt als jugendfreies und familienfreundliches Gegenstück zu Tarkan aufgebaut.

Spiel mit den moralischen Grenzen

Doch auch Skandale werden von den neuen türkischen Stars bereits im eigenen Sinn genutzt – als Spiel mit den moralischen Grenzen. Zum Eklat kam es etwa im letzten Herbst, als Tarkan einem aufdringlichen Reporter, der ihm in einer Discothek den Weg zur Toilette versperrte, in die laufende Kamera die respektlosen Worte „ich muß mal“ sprach. Landesweite Empörung folgte der „Taktlosigkeit“. Neider nutzten die Medien die Gelegenheit, ihm nicht nur Unverschämtheit und Arroganz, sondern gleich noch Homosexualität und Fahnenflucht zu unterstellen.

Tarkans Image kommen die Anwürfe vermutlich eher zugute. Anzunehmen, daß er nach kreativer Pause umso gestärkter wiederkehrt. Derzeit hält er sich in den USA auf, um sich vom Rummel um seine Person zu erholen und sein Comeback in der Türkei vorzubereiten.

Solche „Inszenierungen“ entsprechen einem Spiel mit Identitäten, wie es die Mediengesellschaft möglich gemacht hat. Das Fernsehen spielte eine entscheidende Rolle für Tarkans Karriere, mehr noch: Der „Explosion“ türkischer Pop-Musik entsprechen rasante Veränderungen im türkischen Mediensystem.

Liberalisierung im Sog von MTV

Erster Akt dieser Umwälzung: Die Zulassung von Radio- und Fernsehkanälen 1992 – mit der Folge der totalen Kommerzialisierung des Fernsehprogramms durch Werbung, Unterhaltung, „Sex and Crime“. Quasi als Nebenprodukt entstand dabei auch eine Angleichung der Imageträger an westliche Standards. War in früheren Zeiten im staatlichen Fernsehen TRT sogar das Spielen von Arabesk-Musik, dem Prototyp der orientalischen Schnulze, verboten, so konnte mit der Liberalisierung der Medien nichts mehr den Siegeszug des Pop aufhalten. Allein in Istanbul existieren heute bis zu 22 lokale Rundfunkstationen, die senden, was ihnen gefällt, und im Fernsehen gibt es seit letztem Sommer den Kanal Kral TV – ausschließlich für türkische Pop-Musik.

Der Videoclip-Kanal unterstreicht die wirtschaftliche Bedeutung, die die türkische Pop-Musik in kürzester Zeit erlangt hat: der boomende Pop-Markt ist ein Wachstumssektor in der krisengeschüttelten Türkei. Das im Stil an MTV erinnernde Programm von Kral TV bekam just die Frequenz, auf der im Großraum Istanbul zuvor das angloamerikanische Vorbild zu sehen gewesen war. Offenbar war es den Mediengewaltigen lieber, die türkische Jugend durch türkische Pop-Musik statt durch Grunge und HipHop verdorben zu sehen. Man kann praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit auf mindestens einem Kanal Videoclips sehen, deren Ästhetik MTV-Standards kopiert – und ihnen allmählich auch näherkommt. Die Handlung dieser kurzen Clips ist fast immer gleich: Boy (Popstar) meets Girl (meistens blond), oder Popstar (weiblich) betört Männer (mehrere).

Die Pop-Revolution hat auch die herkömmliche türkische Unterhaltungsmusik verändert: Kein schnurrbärtiger Arabesk-Sänger kann es sich heute mehr leisten, seinen Gesang nicht mit einem wuchtigen Drumbeat oder mit Bläsern aufzupeppen oder gar auf ein Video zu verzichten, in dem er sehnsuchtsvoll einer unerreichbar schönen Frau nachschmachtet. Arabesk-Barden wie Ferdi Tayfur oder Ibrahim Tatlises erleben damit ihren zweiten Frühling.

Und sie haben Erfolg bei einer Generation, die ansonsten eher Michael Jackson bevorzugte. Türk-Pop ist antifatalistische Musik, die auch nördlich von Istanbul ihr Publikum findet.

Gerade die türkischen Teenager in Deutschland, die die Eltern unwiderruflich an Rap und HipHop verloren gaben, entdecken nun das Land, das ihre Eltern oder Großeltern auf der Suche nach Arbeit verlassen haben, neu. Auf Identitätssuche zwischen westlicher und türkischer Kultur, begeistern sie sich für eine Musik, die Elemente aus beidem zu einer Art Kompromiß vereinigt: modern und westlich, aber doch unverkennbar türkisch. Wie groß das Bedürfnis nach „eigener“ Pop- Musik ist, erkennt man daran, daß es in Berlin bereits drei Discotheken gibt, in denen fast ausschließlich zu türkischem Pop getanzt wird. Zu türkischer Musik wird viel inbrünstiger getanzt und mitgesungen, als dies zu anderen Stücken möglich wäre. Und nicht zuletzt: Die nationalen Pop-Stars stärken auch den Nationalstolz: Endlich produziert die Türkei etwas international Vorzeigbares.

Dabei ist die Botschaft der türkischen Retorten-Stars im Grunde unpolitisch: Liebesfreud und Liebesleid im Dauerbrenner. Politik ist mit Sängern wie Zülfü Livaneli heute praktisch aus der türkischen Musik verschwunden. Nach gescheiterter Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters in Istanbul beschränkt sich Livanelis politisches Engagement im Kolumnenschreiben für die Zeitung Milliyet. Und während auf seinem letzten Album noch deutliche Pop- Einflüsse zu hören waren, ist seine jüngste Produktion eine deutliche Abkehr vom allgemeinen Trend: Das jüngst erschienene Livaneli- Werk „Neylersin“ besteht zur Hälfte aus traditionellen, alewitischen Liedern, eine Rückbesinnung auf die anatolischen Wurzeln türkischer Musik.

Musik des neuen Mittelstands

Stoff für Generationskonflikte: Während Vater Zülfü Livaneli musikalisch und politisch gegen den Strom rudert, surft seine Tochter Aylin Livaneli mit auf dem breiter werdenden Strom der Pop- Moderne. Auf dem Cover ihrer Kassette präsentiert sie sich wie ein Vogue-Model – im knallroten Designerkleid vor weißem Hintergrund.

Soziologisch gesehen ist der türkische Pop primär ein städtisches Phänomen. So modern, mondän und weltläufig wie die jugendliche Pop-Brigade sieht sich auch der

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

aufstrebende Metropolen-Mittelstand, dessen Wohlstand sich in der Ära Özal vermehrt hat, während der Rest der Türkei in die Krise rutschte. Für Politik interessiert sich diese Großstadt-Elite allenfalls am Rande. Der Nachwuchs lebt einigermaßen sorgenfrei, Kurdistan ist weit, Musik soll in erster Linie unterhalten.

Auch Innovation ist nur in Maßen gut: Wenn etwa Mustafa Sandal singt: „Bu kiz beni görmeli, bana kazak örmeli“ („Dieses Mädchen soll mir einen Pullover stricken“), dann ist die Botschaft trotz zeitgemäßer Verpackung altbacken wie eh und je.

Ein Interview der Zeitschrift Tempo mit Yonca Evcimik ist symptomatisch für das politische Bewußtsein der jungen Erfolgreichen: Yonca denkt, dem Feminismus sei durch eine Ministerpräsidentin an der Spitze bereits Genüge getan. „Sie scheinen nicht sehr an Politik interessiert“, stellt die entgeisterte Journalistin fest, was Yonca Evcimik freimütig einräumt. Soviel Indifferenz würde es auch nicht betrüben, von Fundamentalisten unter den Schleier gezwungen zu werden. „Für eine Weile könnte ich das vielleicht“, sagt sie, die bei Konzerten eher unverhüllt auftritt. Pragmatismus siegt über reflektierte Formen von Selbstbestimmung – die gleichwohl ständiges Lippenbekenntnis ist. Auch Kollegin Emel erklärt, sich „auf der Bühne sexy“ zu führen. Die Thematisierung von Sex in einer immer noch repressiven Gesellschaft ist in ihren Auswirkungen allerdings nicht zu unterschätzen. Was früher gewöhnlich nur verschämt umschrieben wurde, wird heute eindeutiger angesprochen. Der „Westen“ scheint nicht aufzuhalten, und wie so oft ist die Popmusik der Schrittmacher der Entwicklung. Schon erfreut sich türkischer Pop bei deutschen und anderen Türkeiurlaubern zunehmender Beliebtheit, schon zeigen sich Anschlußstellen an internationale Ästhetiken und Folklorismen. Nur konsequent, daß Tarkans erstes Album eine Coverversion der Gypsy Kings enthält. Auch Euro-Pop ist kompatibel, Vermischungen finden statt wie zuvor bei Ofra Haza, Mory Kante oder Cheb Khaled.

Vorerst kein echter Markt in Germany

Daß der ganz große Erfolg noch ausbleibt, hat wohl weniger ästhetische als strukturelle Gründe: Türkische Musik erscheint nahezu ausschließlich auf heimischen Labels, die Produktion ist national begrenzt. Zwar werden auch in Süddeutschland, bei der Firma Destan Müzik in Esslingen zum Beispiel, große Mengen türkische CDs für den europäischen Markt gepreßt, doch verkauft werden sie ausschließlich in hiesigen türkischen Geschäften. Dort kostet eine CD dafür in der Regel nur 10 Mark. Weder große Musikkaufhäuser wie WOM noch auf World- Music abonnierte Spezialgeschäfte wie Canzone am Berliner Savignyplatz führen sie. Und da, bis auf Sezen Aksu, kein türkischer Musiker bisher bei einem internationalen Konzern unter Vertrag steht, übernimmt niemand die Vermarktung.

Nach den Anschlägen von Mölln und Solingen brachte der Verlag „Eurostar“ erstmals eine CD mit „Turkish Gold“ heraus, eine Kompilation neuerer und älterer Stücke türkischer Interpreten. Der Mitleideffekt: ein etwas zweifelhafter Anlaß, für türkische Pop-Musik zu werben. Der Verlag ging ein, die Scheibe wurde ein Flop. Versehen war sie mit einer Schnodder-Widmung Udo Lindenbergs. Dieser hatte zuvor mit Sezen Aksu im Duett eines ihrer Stücke für sein Album „Benjamin“ aufgenommen. „Seni Kimler Aldi – Messer in mein Herz“ stellt allerdings eher unter Beweis, daß bei aller Vielfalt der Anschlüsse türkischer Pop und teutonischer Rock wenig harmonieren – vielleicht der Grund, warum aus der angekündigten gemeinsamen Tournee nichts geworden ist. Aber wer weiß, vielleicht wird türkische Pop- Musik hierzulande eines Tages so populär wie Döner Kebab. Als dieser eingeführt wurde, hat man auch nicht jedem Döner eine Bratwurst beigelegt, um ihn schmackhafter zu machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen