Einfach gut Von Mathias Bröckers

Am 4. Juli vor 150 Jahren bezog Henry David Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Waldensee, in der Nähe seines Geburtsorts Concorde in Massachusetts. Das einsam gelegene Grundstück hatte ihm ein Freund, der Philosoph und Dichter Ralph Waldo Emerson, zur Verfügung gestellt, die 285 Dollar für den Kauf von gebrauchten Brettern, Latten und zwei Fenstern hatte Thoreau aus seinem letzten Job als Lehrer herübergerettet. Zweieinhalb Jahre lang lebte er in dieser Einsiedelei, abgesehen von kurzen Ausflügen und einem Aufenthalt im Gefängnis, weil er keine Steuern bezahlt hatte. Der Freund und Polizist, der ihn verhaftete, hätte die kleine Summe gerne vorgestreckt, doch Thoreau ging es ums Grundsätzliche. Aus dem geplanten großen Steuerboykott wurde nichts – eine Tante hatte die Schuld heimlich beglichen – doch in der einen Nacht im Gefängnis konzipierte Thoreau einen seiner wichtigsten Essays: „Von der Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Danach setzte er sein Experiment fort und legte seine Erfahrungen in dem Buch nieder, das ihn berühmt machte: „Walden oder Leben in den Wäldern“. Der gemütvoll-romantische Titel und die Vorstellung eines besinnlichen Einsiedlers am lauschigen Waldsee täuscht über die Sprengkraft des Werks leicht hinweg: Tatsächlich hat außer dem zur gleichen Zeit in Europa entstandenen „Kommunistischen Manifest“ wohl kein anderes Buch des 19. Jahrhunderts inspirierender gewirkt als Thoreaus „Walden“. Von Ghandi bis zu amerikanischen Bürgerrechtlern, von englischen Gewerkschaftern über die Hippies bis zur Ökologiebewegung strahlte die Kraft dieses einfachen Berichts bis heute. Während Marx und Engels den gewaltsamen Umsturz des Systems konzipieren, praktiziert Thoreau den Ausstieg durch gewaltlose Weigerung. Und um jeden Verdacht bloßer Naturschwärmerei und pietistischer Askese auszuräumen, führt er ein pedantisches Protokoll: nicht nur über Tiere, Pflanzen und die Landschaft, sondern auch über Soll und Haben, Einkommen und Auskommen. Am Ende standen 61 $ Kosten 36 $ Einnahmen (durch Ackerbau) gegenüber: Als ökonomisches Experiment war Thoreaus ein glatter Mißerfolg. Darüber macht er sich (und uns) keine Illusionen, als Experiment über die Frage, wie ein Mensch wirkliche Freiheit erlangt, ist es dagegen von unschätzbarem Wert. Wie ist eine möglichst freie Entfaltung der Persönlichkeit mit geringstmöglichem Aufwand zu erreichen? Hierauf hat Thoreau nicht die perfekten Antworten parat, er stellt die definitiven Fragen. Er nimmt seine Umgebung und sich als Beobachter unter die Lupe. Was ist wirklich wichtig? „Nach innen kehr dein Aug' und du wirst finden, An tausend unerforschten Regionen, Bereise sie und werde wohl bewandert, In deiner eignen Heimatweltenkunde“ – anders als für den Theoretiker Marx („Das Sein bestimmt das Bewußtsein“) ist für den Praktiker Thoreau das Verhältnis Denken und Tun, Geist und Materie, keine Einbahnstraße. Und anders, eher fernöstlich, ist seine politische Strategie: Ohne die geistige Kraft, die Energie des Gegners umzulenken, keine Revolution: „Ich hätte ,Amok‘ gegen die Gesellschaft laufen können; aber lieber sollte die Gesellschaft gegen mich ,Amok‘ laufen, sie war doch die verzweifelte Partei.“