: Arbeits- oder Armutskultur
■ Interview mit Padre Luis Farinello über das Leben in der marginalisierten Vorstadt
taz: Wer lebt in den „villas“?
Es mag einige geben, die aus der Mittelklasse abgestürzt sind, die vielleicht ihre Arbeit verloren haben, die Miete nicht mehr bezahlen konnten und jetzt auch in den „villas“ wohnen. Aber in der ganz großen Mehrheit sind die Leute in den „villas“ aus dem Landesinnern oder aus Bolivien oder Peru, aus Ländern also, denen es noch schlechter geht als uns. Es gibt auch viele, die müssen einfach in der „villa“ leben, weil das ihr Lebensstil ist, weil dort die Empanadas auf eine bestimmte Art gemacht werden, weil dort ihre Musik gespielt wird. Es gab hier mal jemanden in unserer Kirche, der hat sich sehr stark um eine Frau aus der „villa“ und ihre Kinder gekümmert, hat ihnen dann sogar ein kleines Haus außerhalb der „villa“ gekauft, mit Fernseher und elektrischem Strom und Warmwasser. Die Frau hat dort eine Zeitlang gelebt – und dann ist sie in die „villa“ zurückgegangen. Da hatte sie ihre Freunde, da passen sie gegenseitig auf die Kinder auf, falls irgendeine von ihnen Arbeit findet, da kochen sie zusammen ...
Und das ist so ein großer Kontrast zu den übrigen HauptstädterInnen?
Die übrigen Hauptstädter sind meist Nachfahren von Italienern, Spaniern – sie haben eine Kultur der Arbeit. Unsere Leute sind anders: Sie leben mehr in den Tag hinein, genießen das Leben, feiern viel mehr ...
...und werden deshalb von den Leuten aus der Stadt als Penner angesehen?
Ich habe einmal für einen Jungen aus der „villa“ eine Arbeit in der Stadt gefunden. Ich fahre hin, um zu sehen, wie es läuft, und der Italiener sagt mir: „Ey, der ist nicht mehr gekommen, das sind doch Nichtsnutze, bring mir keine von diesen Negern mehr an, die wollen ja doch nicht arbeiten!“ Ich fahre in die „villa“, und was war geschehen? Die Mutter war kurz zuvor gestorben, und gemäß der Tradition kam jetzt die ganze Familie zusammen, um die 9-Tage-Messe zu feiern. So ist das halt im Landesinneren. Wenn einem Italiener hingegen die Mutter stirbt, steht er trotzdem am nächsten Tag im Geschäft – für ihn ist der Junge ein Faulenzer.
Was ist aber mit den Jugendlichen, die schon hier geboren sind?
Sie bleiben diskriminiert. Ihre Gesichtszüge bleiben indianisch. Sie hören zwar nach einer Weile die gleiche Musik wie die Jugendlichen aus der Stadt, aber trotzdem werden sie schlecht angesehen. Sie haben keine Arbeit, trinken viel Alkohol oder nehmen Drogen. Kein Kokain, das ist zu teuer – sie schnüffeln Klebstoff oder spritzen sich Wein in die Venen. Sie haben überhaupt keine Möglichkeit, Arbeit zu finden, also gehen sie in die besseren Viertel zum Klauen. Während der wichtigen Festtage, zum Beispiel zu Weihnachten, läßt die Polizei sie gar nicht erst in die großen Straßen kommen.
Hat sich das erst in jüngster Zeit so entwickelt?
Hier werden die Armen jeden Tag ärmer, und um zu überleben, klauen sie. Und damit werden sie noch mehr ausgeschlossen, die Leute fühlen sich darin bestätigt, daß diese Leute sowieso alle Nichtsnutze und Diebe sind. Die Not marginalisiert sie noch mehr. Es gibt mehr Armut, mehr Diebstähle, mehr Alkohol, mehr Drogen, die Mädchen sind andauernd schwanger, sie verkaufen ihren Körper, um überleben zu können. Je mehr Elend, desto weniger Lebensmöglichkeiten, desto mehr Marginalisierung. Und eine immer brutalere Polizei, die immer leichter zur Waffe greift. Und die Oberschicht ist zufrieden damit und sagt: Man muß sie alle umbringen, man kann ja sonst nicht mehr in Ruhe leben. Selbst in der „villa“ passiert so etwas: Wenn es in der „villa“ eine Jugendbande gibt, die immer nur unter Drogen steht und klaut, eine alte Frau ausraubt und die Hütte anzündet – dann sind auch die Nachbarn einverstanden, daß die Polizei sie umbringt.
Gibt es auch innerhalb der „villa“ eine ethnische Hierarchie?
Vor allem die Ausländer sind ganz schlecht angesehen: Scheiß- Bolivianer, Scheiß-Polen ...
Es gibt hier noch Polen?
Ja, ein paar. Von denen, die als Habenichtse nach dem Zweiten Weltkrieg hierher gekommen sind, haben es einige geschafft, in die untere Mittelschicht aufzusteigen, aber die meisten ... Es gibt auch einen Deutschen in der „villa“, ein großer Kerl. Es ist eine Welt für sich, diese „villa“, Marginalisierte von überall.
Es ist halt das komische an dieser Gesellschaft: Wenn du in der Hauptstadt herumläufst, sagen wir im Bezirk Palermo – das ist Paris! Und du gehst 15 Minuten weiter ein bißchen nach außerhalb: Das ist Argentinien. Interview: Bernd Pickert
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