Im Alleingang zwischen den Behörden

■ Das Sozialamt sieht im sexuellen Mißbrauch keinen dringenden Umzugsgrund

„Ich weiß langsam nicht mehr was ich machen soll“, sagt Frau K. und zieht nervös an ihrer Zigarette. Seit drei Monaten sucht sie für sich und ihre vier Kinder eine neue Wohnung, denn ihre 4- und 6jährigen Töchter wurden von einem Nachbarn sexuell mißbraucht. Das Sozialamt aber weigert sich, dem Ersuchen der Frau (s. taz vom 19.5.) die erforderliche Dringlichkeitsstufe zuzumessen: „Wir sind sicher, daß keine akute Gefahr für die Kinder besteht“, erklärte Wolfgang Beyer, Sprecher des Sozialressorts, gegenüber der taz.

Zu diesem Ergebnis kam der mobile Soziale Dienst vor Ort. Er will ermittelt haben, daß der Täter dem gerichtlich erlassenen Hausverbot folgt, und nicht mehr in der Umgebung des Wohnkomplexes zu sehen ist. Auch die Ehefrau des Täters, die, so Frau K. „zumindest die Handlungen ihres Mannes geduldet hat und öfters dabei war“, halte sich nicht mehr im Haus der Frau K. auf. Das aber, versichert die alleinerziehende Mutter unter Berufung auf ZeugInnen, stimmt nicht: Der Täter, dessen Eltern nur wenige Straßen entfernt wohnen, werde immer wieder nahe des Abenteuerspielplatzes gesehen, der von den Kindern des Stadtteils bevorzugt aufgesucht wird. Seine Ehefrau lebe nach wie vor in der Wohnung über Frau K.: „Die sehe ich doch alle zwei Tage.“

Die Mädchen geraten jedesmal in Panik, wenn sie den Täter oder seine Frau sehen. Sie rennen schreiend weg, verstecken sich im Gebüsch und weinen, berichtet Frau K. „Das kann doch so nicht weitergehen.“ Die Mädchen schlafen kaum noch, weinen jede Nacht. Die 6jährige hat angefangen zu stottern, berichet die Mutter, das schlimmste aber: Das Mädchen hat angefangen, das Essen zu verweigern. Sie hat Angst, von der Hexe aufgefressen zu werden, wenn sie dicker wird. Das hat der Täter ihr gesagt.

Ein ärztliches Attest vom 2.6. bescheinigt, daß die Kinder aufgrund des sexuellen Mißbrauchs unter „erheblichen psychischen und körperlichen Folgezuständen“ leiden. „Ein Verbleib der Kinder in der Wohnung ist nicht zumutbar und für die Entwicklung der Kinder nicht zu verantworten.“ Das aber sehen die Behörden anders. Seit Monaten werden der Frau vom Sozialamt immer wieder neue Gründe genannt, warum der Umzug nicht möglich ist. Wesentliches Argument sind die Kosten. Die Familie hat Anspruch auf eine 5-Zimmer-Wohnung oder 90 Quadratmeter, die, so lautete jedenfalls eine über acht Wochen aufrechterhaltene Falschinformation, maximal 900 Mark Warmmiete kosten dürfe. Erst dann beschäftigte sich eine Frau beim Sozialamt mit dem Fall und fand heraus, daß dieser Satz für die Kaltmiete gilt.

Frau K. schöpfte neue Hoffnung. Doch auch zu diesem Preis können ihr Gewoba und Bremische keine Wohnung verschaffen, jedenfalls nicht außerhalb von Ballungsgebieten. Dorthin aber darf Frau K. aufgrund einer Auflage des Jugendamtes nicht ziehen. Sonst darf ihr Sohn, der vorübergehend mit Verhaltensstörungen im Heim lebt, nicht zu ihr zurückkehren. Die zweite Auflage besteht in einem eigenen Zimmer für den Jungen. Das aber fehlt in der jetzigen Wohnung von Frau K., sie muß also ohnehin umziehen.

Letzteres sieht das Sozialamt durchaus ein. Die Frage ist nur, welche Dringlichkeit dem Umzug beigemessen wird, und wieviel eine Wohnung im dementsprechenden Ausnahmefall kosten darf. Im Fall des Jungen, der in den kommenden eineienhalb Jahren stufenweise zurückgeführt werden soll, sieht das Sozialamt keinen Zwang, sofort zu handeln, und dabei womöglich den Mietkostenzuschuß zu erhöhen. Der sexuelle Mißbrauch an den Mädchen wird ebenfalls nicht als dringender Umzugsgrund anerkannt, da sich Täter und Ehefrau angeblich nicht mehr in der Nähe der Opfer aufhalten. Damit gelten für Frau K. die normalen Wohngeldgrenzen.

Frau K. versuchte das Unwahrscheinliche und begab sich auf den freien Wohnungsmarkt. Sie fand nichts für 900, aber, nachdem das Sozialamt ihr zu einem Mitmieter geraten hatte, ein Reihenhaus für 1400 Mark. Ein Bekannter von Frau K. signalisierte Bereitschaft einzuziehen und 500 Mark Miete zu übernehmen. Der Lösungsversuch scheiterte, da das Sozialamt einen gesamtschuldnerischen Mietvertrag verlangte. Das heißt für Frau K.: Wenn der Mann auszieht, muß auch sie eventuell raus. Alternativ würde ein Fremder bei ihr einziehen. Außerdem müßte sie beweisen, daß sie nicht in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt. Gelingt ihr das nicht, würde ihr die Sozialhilfe gestrichen.

„Ich habe das Gefühl, daß mir immer wieder neue Fallen gestellt werden“, bilanziert Frau K. die immer wieder sich auftuenden Schwierigkeiten, gegen die sie ebenso oft auf die Barrikaden geht. Beim Sozialamt wird ihr Fall mittlerweile als Chefsache gehandelt, was die Sache nicht beschleunigt. Wenn Frau K. belegen könnte, versicherte der Sprecher des Sozialressorts gegenüber der taz, daß der Täter und die Frau noch da sind, dann bestünde akute Gefahr. Dann müßte, Wohngeldgrenze hin oder her, sofort gehandelt werden. Gestern schickte Frau K. dem Sozialamt einen Unterschriftenliste, mit der neun Mietparteien, darunter Eltern ebenfalls mißbrauchter Kinder, die Gewoba auffordern, die Wohnung des Täters und seiner Frau endlich zu räumen, weil diese noch immer da wohne. Bestätigt fühlt sich Frau K. auch durch das Melderegister, das Täter und Ehefrau unter jener Adresse führt. Außerdem kann Frau K. namentlich ZeugInnen benennen, die beide gesehen haben. Frau K.: „Was soll ich denn sonst noch beweisen?“

Dora Hartmann